Fiesolaner Ritornelle

[29] Oliven.

Erst wenn der Wind euch beugt und schaudern macht,

enthüllt ihr eure silbernen Tiefen.


Zypressen.

Ihr lehrt mit nicht gemeinem Maß

die Dinge messen.


Feigen.

So sinnlich sah ich keinen zweiten Baum

Unfaßbares umzweigen.


Käuzchenschreie.

Des Unglücks Bote ruft durch stille Nacht.

Wann kommt an uns die Reihe?
[30]

Mondnächte, klare.

In solchen Nächten stiehlt man nichts

denn Liebesware.


Nachtschatten.

Erinnerst du dich, fernes Mädchen, noch,

wie lieb wir uns einst hatten?


Judasbäume.

Daß ich vor euch nicht von verratner Liebe

träume!


Verfrühter Falter.

Du flogst, verwegner Geist, der Zeit voraus;

noch dämmert erst dein Alter.
[31]

Glänzende Dächer.

Im Mittagschleier ruht die Arnostadt,

ein edelsteinbesetzter Fächer.


Zwölfuhr-Schuß.

Dem Aug' blitzt Mittag schon, indes das Ohr

sich noch im Vormittag gedulden muß.


Domglocke brummt:

Aus Höhn und Tiefen keine Antwort mehr:

Mein Gott, mein Mensch sind beide längst verstummt.


Ihr sanften Hügelketten!

Umsonst versuch' ich in mein Buch zu schaun;

wer könnte sich vor Eurer Anmut retten!
[32]

Eidechse.

Solang ich pfeife, hältst du still und horchst, –

doch greif' ich zu, entwischst du, kleine Hexe.


Amsel flötet, Biene summt,

Frühling jubelt über allem Leben ...

Mund des Glücks, du warst mir lang verstummt.


O Welt!

Wie gern genöss' ich als ein Schauspiel dich,

von halber Höh', nur locker dir gesellt.


Von halber Höh' – ein Adel, der mir paßt.

So lebt' ich immer, zwischen Tier und Gott,

halb Mensch, halb Vogel, zweier Reiche Gast.
[33]

Glanzgrauer Tag.

Aus deinem Taft soll man die Flagge machen,

darin man mich dereinst begraben mag.


Der Freund schreibt:

Des Herzens unverwandte Einsamkeit,

du fühlst sie auch – und wie sie nichts vertreibt.


Mohn im Winde.

So neigen wir uns glühend geneinander, –

doch nie wird zwei zu eins – als einst im Kinde.


Epheuranke.

So reich verkleidet Trümmer und Zerfall

nur Eins noch: der Gedanke.
[34]

Die Fünfuhr-Glocke ruft durch bleiche Nacht:

Wer schläft, wach' auf, und wer da wacht, schlaf' ein;

so hab' ich jedem, was ihm frommt, gebracht.


Morgenhauch.

Aus Bett und Haustür ziehst du mich hinaus,

wie aus der Esse den verschlafnen Rauch.


Giottos Grabschrift von Polizian.

Zwiefacher Hauch der Vorzeit traf uns voll,

als wir im Dom die stolzen Verse sahn.


In meinem Burckhardt wühlt empört der Sturm:

So war es einst, so soll es wieder sein!

Das gafft nur, schafft nicht mehr um Giottos Turm.
[35]

Kaum mehr erhoffte Tage!

Mit dreißig Jahren fand ich eine Stadt,

zu deren Bild ich ja und Amen sage.

Quelle:
Christian Morgenstern: Sämtliche Dichtungen. Abteilung 1, Band 7, Basel 1971–1973, S. 29-36.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Bunte Steine. Ein Festgeschenk 1852

Bunte Steine. Ein Festgeschenk 1852

Noch in der Berufungsphase zum Schulrat veröffentlicht Stifter 1853 seine Sammlung von sechs Erzählungen »Bunte Steine«. In der berühmten Vorrede bekennt er, Dichtung sei für ihn nach der Religion das Höchste auf Erden. Das sanfte Gesetz des natürlichen Lebens schwebt über der idyllischen Welt seiner Erzählungen, in denen überraschende Gefahren und ausweglose Situationen lauern, denen nur durch das sittlich Notwendige zu entkommen ist.

230 Seiten, 9.60 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon