Vor den Fresken der Appartementi Borgia

[24] In dieser düstern Gottespracht

lebten Menschen nicht gemeiner Triebe;

hier wuchs ins Ungeheure Haß und Liebe;

hier hatte man der Welt nicht acht.


Du warst nicht mehr die Jungfrau blind,

verführerischste der Madonnen!

Du warst das Weib der höchsten Wonnen

und süßer Sünde Frucht dein Kind.


Was galt dir noch der Jesus dort,

du »Ewigheitrer« auf den Knieen!

Du hattst dem »Wort« nur noch die Macht entliehen,

du galtst dir selbst als letztes »Wort«.


Und Du, Lucrezia, weißer Schwan,

mit deinen goldnen Sonnenflechten!

Was disputierst du? Laß sie rechten!

Du lächelst, – und so ist's getan.


Und Du im Schlummer, Genius!

Warst du von denen, die nie Ohren haben?

Cäsar! Erwachtest du erst ganz im Graben,

im finstern, von des Todes Kuß?
[25]

Was ward – ihr wissenden Wände seid's gefragt! –

Himmelssturm wie deiner zu Spott? ...

Er war – Geflüster schwillt und flucht und klagt –

ein Dämon nur – kein Gott.

Quelle:
Christian Morgenstern: Sämtliche Dichtungen. Abteilung 1, Band 7, Basel 1971–1973, S. 24-26.
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