[Wie macht' ich mich]

[57] Wie macht' ich mich von DEINEM Zauber los

und tauchte wieder nieder in die Tiefe

und stiege wieder in des Dunkels Schoß,

wenn nicht auch dort DEIN selbes Wesen riefe,

an dessen Geisterlicht ich hier mein Sein,

als wie der Schmetterling am Licht, erlabe,

doch ohne daß mir die vollkommne Gabe

zum Untergang wird und zur Todespein.


Wie könnte ich von solcher Stätte scheiden,

wo jeder letzte Glückestraum erfüllt,

verharrte nicht ein ungeheures Leiden,

sogar von diesem Himmel nur – verhüllt.

Und da mir dessen Stachel ist geblieben,

wie könnt' ich nun, als brennend von DIR gehn,

um DICH in jener Welt noch mehr zu lieben,

in der sie DICH, als Sonne, noch nicht sehn.


Von Liebe so von DIR hinabgezwungen

vom Himmel auf die Erde, weiß ich doch:

nur immer wieder von DIR selbst durchdrungen,

ertrag' ich freudig solcher Sendung Joch.

DU mußtest DICH als Quell mir offenbaren,

der unaufhörlich mir Erneuung bringt.

Nun kann ich auch gleich DIR zur Hölle fahren,

da mich DEIN Himmel ewiglich verjüngt.

Quelle:
Christian Morgenstern: Sämtliche Dichtungen. Abteilung 1, Band 11, Basel 1971–1973, S. 57-58.
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