Achtzehntes Kapitel.

[258] Stern fährt fort. Frau Slotering spricht, und Havelaar schreitet zur That. – Droogstoppels großer Triumph.


Es war Nachmittag. Havelaar trat aus seinem Zimmer und fand seine Tine in der Vorgalerie, wo sie ihn mit dem Thee erwartete. Mewrouw Slotering kam aus ihrem Hause und schien sich zu Havelaars begeben zu wollen; aber plötzlich wendete sie sich nach dem Zaune zu und wies dort, mit recht heftigen Bewegungen, einen Mann zurück, der eben eingetreten war. Sie blieb stehen, bis sie sich vergewissert hatte, daß er wieder draußen war, und wendete sich darauf, an dem Grasplatze entlang, nach Havelaars Haus zurück.

»Ich muß doch endlich einmal wissen, was das bedeutet,« sagte Havelaar, und als die erste Begrüßung vorbei war, fragte er im scherzhaften Tone, damit sie nicht denken sollte, daß er ihr die Macht, die früher die ihre war, nicht gönnte:

»Sagen Sie mir doch, Mewrouw, warum Sie die Menschen, die das Grundstück betreten, zurücksenden? Wenn der Mann soeben nun jemand war, der Hühner oder dergleichen zu verkaufen hatte, was für die Küche nötig ist?«

Auf Frau Sloterings Gesicht zeigte sich ein schmerzhafter Zug, der Havelaar nicht entging.[258]

»Ach,« sagte sie, »es giebt so viel schlechtes Volk

»Gewiß, überall! Aber wenn Sie es den Menschen so schwer machen, werden die Guten auch wegbleiben. Bitte, Mewrouw, sagen Sie mir doch, warum Sie so strenge Aufsicht üben über das Grundstück?«

Havelaar sah sie an und versuchte vergebens die Antwort in ihrem feuchten Auge zu lesen. Er drang etwas stärker auf Erklärung, die Witwe brach in Thränen aus und sagte endlich, daß ihr Mann vergiftet worden sei im Hause des Distriktshauptes von Parang-Kudjang!

»Er wollte Gerechtigkeit üben, Mijnheer Havelaar,« fuhr die arme Frau fort, »er wollte ein Ende machen der Unterdrückung, unter der das Volk seufzt. Er mahnte und drohte den Häuptern, in Versammlungen und schriftlich ... Sie werden im Archiv seine Briefe gefunden haben ...«

Das war in der That so: Havelaar hatte die Briefe gelesen, deren Abschriften vor mir liegen.

»Er sprach fortwährend mit dem Residenten,« fuhr die Frau fort, »aber immer vergebens. Denn da allgemein bekannt war, daß die Erpressungen zum Nutzen und unter dem Schutz des Regenten erfolgten, welchen der Resident nicht anklagen mochte, so führten alle diese Unterredungen zu nichts als zu Mißhandlung der Kläger. Darum hatte mein armer Mann gesagt, wenn bis Ende dieses Jahres keine Besserung eintrete, würde er sich geradeswegs an den General-Gouverneur wenden. Das war im November. Er ging kurz darauf auf eine Inspektionsreise, nahm das Mittagsmahl im Hause des Demang von Parang-Kudjang ein und wurde kurz darauf in erbarmungswürdigem Zustande nach Hause gebracht. Er rief, auf seinen Magen zeigend: ›Feuer! Feuer!‹ und wenige Stunden später war er tot – er, der immer ein Muster von guter Gesundheit gewesen war!«

»Haben Sie den Arzt aus Serang rufen lassen?« fragte Havelaar.

»Ja, aber er hat meinen Mann nur kurz behandelt, weil dieser bald nach seiner Ankunft gestorben ist. Ich wagte es nicht, dem Doktor meine Vermutung mitzuteilen, weil ich voraussah, daß ich diesen Ort nicht so bald würde verlassen haben, und mich der Rache nicht aussetzen wollte. Ich habe gehört, daß Sie, ebenso wie mein Gatte, gegen die Mißbräuche, die hier herrschen, auftreten, und darum habe ich keinen ruhigen Augenblick. Ich wollte dies alles vor Ihnen verbergen, um Sie und Mewrouw nicht ängstlich zu machen,[259] und beschränkte mich deshalb auf die Bewachung des Grundstücks, damit keine Fremden zu der Küche Zutritt fänden.«

Jetzt wurde Tine klar, warum Mewrouw Slotering ihren eigenen Haushalt hatte weiterführen wollen, und warum sie nicht einmal die Küche benutzt habe, die doch so sehr groß war.

Havelaar ließ den Kontroleur rufen.

Während der Zwischenzeit richtete er an den Arzt zu Serang ein Ersuchen um Mitteilung der Erscheinungen bei Sloterings Tod. Die Antwort, die er am folgenden Tage auf diese Frage bekam, war nicht im Sinne der Vermutung der Witwe. Nach Ansicht des Arztes war Slotering an einem »Absceß in der Leber« gestorben. Es leuchtet mir nicht ein, ob ein solches Leiden sich so auf einmal zeigen und innerhalb weniger Stunden zu Tode führen kann. Ich glaube hier auf Mewrouw Sloterings Erklärung Gewicht legen zu müssen, daß ihr Gatte früher immer gesund gewesen ist. Wenn man aber einer solchen Erklärung keinen Wert zuerkennen will, weil der Begriff Gesundheit sehr subjektiv ist, besonders in den Augen von Laien, so bleibt die gewichtige Frage, ob jemand, der heute an einem »Absceß in der Leber« stirbt, sich gestern noch zu Pferde setzen konnte, mit der Absicht, eine gebirgige Gegend zu inspizieren, die in einigen Richtungen zwanzig Stunden breit ist?

Der Arzt, der Slotering behandelte, kann ein geschickter Mediziner gewesen sein, und sich trotzdem in der Beurteilung der Krankheit geirrt haben. Auf den Verdacht einer Missethat war er ja auch ganz unvorbereitet.

Ich kann also nicht beweisen, daß Havelaars Vorgänger vergiftet worden ist, denn man hat Havelaar nicht die Zeit gelassen, dieser Sache zur Klarheit zu bringen. Aber das kann ich beweisen, daß seine Umgebung ihn für vergiftet hielt, und daß man diesen Verdacht an sein Bestreben, das Unrecht abzustellen, anknüpfte.

Der Kontroleur Verbrügge trat in Havelaars Zimmer.

Dieser fragte kurzweg: »Woran ist der Herr Slotering gestorben?«

»Das weiß ich nicht.«

»Ist er vergiftet worden?«

»Ich weiß nicht ... aber ...«

»Deutlich, Verbrügge!«

»Aber er trat gegen die Mißbräuche auf ... wie Sie.. und er wäre sicher vergiftet worden, wenn er länger hier geblieben wäre[260]

»Schreiben Sie das auf!«

Verbrügge hatte das Gesagte aufgeschrieben ... es liegt vor mir.

»Noch eins. Ist es wahr, oder ist es nicht wahr, daß in Lebak Erpressung herrscht?«

Verbrügge antwortete nicht.

»Antwort, Verbrügge!«

»Ich wage es nicht.«

»Schreiben Sie auf, daß Sie es nicht wagen!«

Verbrügge hat es aufgeschrieben ... es liegt vor mir.

»Gut! Noch eins ... Sie sagten, Sie wagten nicht auf diese letzte Frage zu antworten. Sie sagten mir unlängst, als einmal von Vergiftung die Rede war, Sie wären die einzige Stütze Ihrer Schwestern zu Batavia ... ist das die Ursache Ihrer Furcht, von dem, was ich Halbheit nannte?«

»Ja!«

»Schreiben Sie das auf!«

Verbrügge schrieb es auf: die Erklärung liegt vor mir.

»Es ist gut,« sagte Havelaar, »ich weiß genug.«

Und Verbrügge war entlassen.

Havelaar trat hinaus und spielte mit dem kleinen Max, den er mit besonderer Innigkeit küßte. Als Mewrouw Slotering sich empfohlen hatte, schickte er das Kind weg und rief Tine in sein Zimmer.

»Liebe Tine! ich habe eine Bitte an dich: ich wünschte, daß du mit Max nach Batavia gingst. Ich klage heute noch den Regenten an!«

Und sie fiel ihm um den Hals und war zum erstenmal ungehorsam und rief schluchzend:

»Nein, Max, nein, Max, das thue ich nicht ... das thue ich nicht ... wir essen und trinken zusammen.«

Er schrieb den Brief, von dem ich hier eine Abschrift gebe und sandte ihn ab.

Nachdem ich die Umstände, unter denen dieser Brief geschrieben wurde, einigermaßen geschildert habe, brauche ich wohl nicht auf die beherzte Pflichterfüllung hinzuweisen, die aus diesem Aktenstück herausstrahlt, ebensowenig wie auch auf die Sanftmut, die Havelaar bewog, den Regenten gegen alle schwere Strafe in Schutz zu nehmen. Weniger überflüssig wird es aber sein, bei alledem auf seine Vorsicht hinzuweisen, die ihn veranlaßte, kein Wort über die eben gemachte Entdeckung zu äußern, um nicht das Sichere seiner Anklage durch Unsicherheit über eine zwar wichtige, aber noch unbewiesene[261] Beschuldigung zu schwächen. Seine Absicht war, die Leiche seines Vorgängers ausgraben und wissenschaftlich untersuchen zu lassen, sobald der Regent entfernt und dessen Anhang unschädlich gemacht wäre. Wie ich indessen schon sagte, man hat ihm nicht die Zeit dazu gelassen.

In den Abschriften offizieller Stücke – Abschriften, die im übrigen mit den Originalen buchstäblich übereinstimmen – glaube ich die alberne Titulatur durch einfache Fürwörter ersetzen zu können. Ich erwarte von dem guten Geschmack meiner Leser, daß sie an dieser Änderung Gefallen finden.


Nr. 88. Geheim.

Eilt!

Rangkas-Betung, 24. Februar 1856.


An den Residenten von Bantam.


Seit ich vor einem Monat meinen Posten hier antrat, habe ich mich hauptsächlich mit der Untersuchung der Art und Weise beschäftigt, wie die inländischen Häupter sich mit ihren Verpflichtungen gegen das Volk, betreffend die »Herrendienste«, Pundutan und dergleichen, abfinden.

Sehr bald entdeckte ich, daß der Regent auf eigene Autorität und zu seinem Nutzen, Menschen aufbot, weit über die Zahl der ihm gesetzlich zukommenden Anzahl »Pantjens« oder »Kemits«.

Ich schwankte zwischen der Möglichkeit, sofort offiziell zu rapportieren, und der Hoffnung, diesen inländischen hohen Beamten durch Milde oder später auch durch Drohungen davon abzubringen, um am Ende das doppelte Ziel zu erreichen, nämlich die Mißbräuche abzustellen und gleichzeitig den alten Diener des Gouvernements nicht sofort allzu streng zu behandeln, besonders in Anbetracht der schlechten Beispiele, die wohl oft gegeben sind, und im Zusammenhang mit dem Umstande, daß er den Besuch zweier Verwandten (der Regenten von Bandong und von Tjikand, besonders des letzteren, der wohl schon mit großem Gefolge unterwegs ist) erwartet, und ihm so mehr als sonst die Versuchung nahe tritt – und in Rücksicht auf seine beschränkten Geldmittel, gewissermaßen in der Notlage – durch ungesetzliche Mittel für die notwendigen Vorbereitungen zum Empfange zu sorgen.

Das alles veranlaßte mich zur Milde betreffs der Dinge, die schon geschehen waren, aber keineswegs zur Nachgiebigkeit für die Zukunft.

Ich drang darauf, mit den Ungesetzlichkeiten sofort aufzuhören.[262]

Von dem vorläufigen Versuche, den Regenten durch Milde zu seiner Pflicht zu bringen, habe ich Ihnen unter der Hand berichtet.

Es hat sich aber herausgestellt, daß er mit brutaler Unverschämtheit alles in den Wind schlägt, und ich fühle mich kraft meines Amtseides verpflichtet, Ihnen mitzuteilen:

daß ich den Regenten von Lebak, Radhen Adhipatti Karta Natta Negora, anklage des Mißbrauchs seiner Macht, durch ungesetzliches Verfügen über die Arbeit seiner Untergebenen, und daß ich ihn im Verdacht der Erpressung habe, ausgeübt durch Einfordern von Lieferungen in natura, ohne oder gegen willkürliche ungenügende Bezahlung;

daß ich ferner den Demang von Parang-Kudjang (seinen Schwiegersohn) im Verdacht habe, an den genannten Gesetzesübertretungen mitschuldig zu sein.

Um beide Sachen gehörig untersuchen zu können, nehme ich mir die Freiheit, Ihnen vorzuschlagen, mich zu beauftragen:

1. den vorgenannten Regenten von Lebak mit größter Eile nach Serang zu senden, und Sorge zu tragen, daß er weder vor seiner Abreise, noch während der Reise in Gelegenheiten komme, durch Bestechung oder auf andere Weise auf die Zeugnisse, die ich einfordern werde, Einfluß zu üben;

2. den Demang von Parang-Kudjang vorläufig in Arrest zu nehmen;

3. die gleiche Maßregel auf solche Personen niederen Ranges anzuwenden, die als Familienangehörige des Regenten in der Lage sein können, auf die Klarheit der anzustellenden Untersuchung Einfluß zu üben;

4. die Untersuchung sofort einzuleiten und von dem Ergebnis ausführlichen Bericht zu erstatten.

Ich nehme mir ferner die Freiheit, in Erwägung zu geben, die Reise des Regenten von Tjikand zu »kontramandieren«.

Zum Schluß habe ich die Ehre (allerdings zum Überfluß für Sie, der den Bezirk Lebak besser kennt als mir möglich ist), die Versicherung zu geben, daß vom politischen Gesichtspunkte die streng rechtmäßige Behandlung dieser Sache nicht das mindeste Bedenken hat, und daß ich eher eine Gefahr darin sehen würde, wenn sie nicht zur Klarheit gebracht würde; denn ich bin dahin berichtet, daß der kleine Mann, der, wie ein Zeuge mir sagte, »pussing« ist von der Unterdrückung, schon lange nach Rettung ausschaut.[263]

Ich habe die Kraft zu der schweren Pflicht, die ich vollbringe, indem ich diesen Brief schreibe, zum Teil aus der Hoffnung geschöpft, daß es mir vergönnt sein werde, seiner Zeit einen anderen zur Schonung des alten Regenten einzureichen, mit dessen Lage, wie sehr sie auch durch eigene Schuld verursacht ist, ich doch tiefes Mitleid empfinde.

Der Adsistent-Resident von Lebak.

(gez.) Max Havelaar.


Am folgenden Tage antwortete der Resident von Bantam? – nein, der Herr Slijmering privatim!

Diese Antwort ist ein kostbarer Beitrag, um die Art und Weise kennen zu lernen, wie in Niederländisch-Indien die Regierung ausgeübt wird. Der Herr Slijmering beklagte sich, daß »Havelaar ihm von der Sache, die im Briefe Nr. 88 vorkam, nicht vorher mündlich Kenntnis gegeben hatte« – natürlich weil dann mehr Möglichkeit gewesen wäre zur Vertuschung – und dann: daß »Havelaar ihn in seinen vielen dringenden Geschäften störte!«

Der Mann war gewiß beschäftigt mit einem Jahresbericht über »ruhige Ruhe« ... ich habe diesen Brief vor mir und traue meinen Augen nicht. Ich lese wieder den Brief des Adsistent-Residenten von Lebak ... ich lege Havelaar und Slijmering nebeneinander ...


* * *


Dieser Shawlmann ist ein gemeiner Landstreicher. Du mußt wissen, Leser, daß Bastiaans wieder oftmals nicht aufs Kontor kommt, weil er die Gicht hat. Da ich mir ein Gewissen mache aus dem Wegwerfen der Gelder der Firma (Last & Co.), denn in Prinzipiensachen bin ich unbeugsam, kam ich vorgestern auf den Gedanken, daß Shawlmann doch eine gute Hand schreibt, und da er so armselig aussieht, und für wenig Geld zu haben sein könnte, begriff ich, der Firma gegenüber verpflichtet zu sein, auf die billigste Weise auf Bastiaans' Ersatz zu denken. Ich ging daher nach der Langeleidschen Querstraße. Die Frau aus dem Laden war vorne; doch schien sie mich nicht wiederzukennen, obwohl ich ihr unlängst gesagt hatte, daß ich Mijnheer Droogstoppel wäre, Makler in Kaffee, von der Lauriergracht. Es ist immer eine Sorte von Beleidigung in dem Nichtwiedererkennen; aber da[264] es jetzt weniger kalt ist und ich das vorige Mal meine Jacke mit Pelz an hatte, schrieb ich es dem zu, und zog mir es nicht an, die Beleidigung meine ich. Ich sagte also noch einmal, daß ich Mijnheer Droogstoppel von der Lauriergracht wäre, Makler in Kaffee, und bat sie nachzusehen, ob die Shawlmanns zu Hause wären, da ich nicht wieder wie das letzte Mal mit seiner Frau zu thun haben wollte, die immer unzufrieden ist. Aber die Portierfrau weigerte sich hinaufzugehen. »Sie könne nicht den ganzen Tag Treppen klettern für das Bettelvolk,« sagte sie, »ich könnte ja selber nachsehen.« Und dann folgte wieder eine Beschreibung von Treppen und Fluren, die ich absolut nicht nötig hatte; denn ich erkenne immer gleich jede Örtlichkeit wieder, wo ich einmal gewesen bin, weil ich auf alles so acht gebe. Das habe ich mir in den Geschäften angewöhnt. Ich stieg also die Treppe hinauf und klopfte an die bekannte Thur, die sich öffnete. Ich trat ein, und da ich niemand im Zimmer fand, sah ich mich um. Viel zu sehen war ja nicht. Es hing ein halbes Höschen mit gesticktem Streifen über einem Stuhl; was brauchen solche Menschen gestickte Höschen zu tragen? In einer Ecke stand ein nicht sehr schwerer Reisekoffer, den ich in Gedanken am Griff faßte, und auf dem Ofenrand lagen einige Bücher, die ich mir ansah. Eine sonderbare Gesellschaft! Ein paar Bände vom Byron, Horaz, Bastiat, Béranger und – rate einmal! – eine Bibel, eine komplette Bibel, mit den Apokryphen drin. Das hatte ich von Shawlmann nicht erwartet. Und es schien auch, als ob drin gelesen wurde, denn ich fand viele Aufzeichnungen auf losen Papierstücken, die auf die Schrift Bezug hatten, alle von derselben Hand wie die Stücke in dem verwünschten Paket. Besonders das Buch Hiob schien er eifrig studiert zu haben, denn da gingen die Blätter auseinander. Ich denke, daß er die Hand des Herrn zu spüren anfängt, und darum durch Lektüre in den heiligen Büchern sich mit Gott aussöhnen will, und ich habe nichts dagegen. Aber wie ich nun noch so warte, fiel mein Auge auch auf ein Damen-Handarbeitskästchen, das auf dem Tische stand. Ohne Arg besah ich das, es waren ein paar halbfertige Kinderstrümpfchen eine Zahl von verrückten Versen und ein Brief an Shawlmanns Frau, wie sich aus der Aufschrift ergab. Der Brief war geöffnet und sah aus, wie in der Eile zusammengeknittert. Nun ist mein festes Prinzip, nie etwas zu lesen, was nicht an mich gerichtet ist, weil ich das nicht anständig finde. Ich thue es denn auch nie, wenn ich kein Interesse daran habe,[265]aber nun bekam ich eine Eingebung, daß es meine Pflicht wäre, diesen Brief einmal einzusehen, weil der Inhalt mir vielleicht Aufklärungen geben könnte in betreff der menschen-freundlichen Absicht, die mich zu Shawlmann führte. Ich dachte daran, wie doch der Herr allezeit den Seinen nahe ist, da er mich hier unerwartet in die Lage brachte, mehr von diesem Mann zu erfahren, und mich also vor der Gefahr behütete, einer unmoralischen Person eine Wohltat zu erweisen. Ich achte gewissenhaft auf solche Winke des Herrn, das hat mir oft Geschäften viel genützt. Zu meiner großen Verwunderung sah ich, daß die Frau Shawlmanns von vornehmer Familie war, wenigstens war der Brief unterzeichnet von einem Blutsverwandten, dessen Namen in Niederland angesehen ist, und ich war in der That entzückt über den schönen Inhalt des Schreibens. Es schien jemand zu sein, der eifrig für den Herrn arbeitet, denn er schrieb, »daß Shawlmanns Frau sich von einem solchen Elenden, der sie Not leiden ließe, der sein Brot nicht verdienen könnte, der außerdem ein Schurke wäre, weil er Schulden hätte, solle scheiden lassen. Daß der Schreiber des Briefes mit ihrem Lose Mitleid habe, wenn sie sich das Los auch durch eigene Schuld auf den Hals geladen habe, weil sie den Herrn verlassen habe und Shawlmann anhing; – daß sie zum Herrn zurückkehren solle, und daß dann die Familie ihr die Hand bieten werde, um ihr Näharbeit zu verschaffen; – aber vor allem müsse sie sich von diesem Shawlmann trennen, der für die Familie eine Schande wäre

Kurz, in der Kirche selber war nicht mehr Erbauung zu holen, als in diesem Briefe stand.

Ich wußte genug und war dankbar, daß ich auf so wunderbare Weise gewarnt war. Ohne diese Warnung wäre ich sicher ein Opfer meines guten Herzens geworden. Ich beschloß deshalb wieder, Bastiaans noch zu behalten, bis ich einen geeigneten Ersatz fände, denn ich setze nicht gern jemand auf die Straße.

Der Leser wird gewiß neugierig sein, wie ich es auf dem letzten Theeabend gemacht habe, und ob ich den »Triolet« gefunden habe. Ich bin gar nicht dagewesen, ... es sind wunderliche Dinge vorgefallen; ich bin mit meiner Frau und Marie in Driebergen gewesen. Mein Schwiegervater, der alte Last, der Sohn von dem ersten Last (als die Meyers noch drin waren, aber die sind lange heraus) hatte schon oft gesagt, daß er meine Frau und Marie einmal sehen wollte.[266] Nun war es ziemlich gutes Wetter, und meine Furcht vor der Liebesgeschichte mit der Stern gedroht hatte, brachte mir auf einmal diese Einladung in die Erinnerung. Ich sprach darüber mit unserem Buchhalter, der ein Mann von Erfahrung ist, und der mir nach reiflicher Überlegung den Rat gab, die Sache noch einmal zu beschlafen. Das nahm ich mir auch sofort vor, denn ich bin schnell in der Ausführung meiner Beschlüsse. Am folgenden Tage schon sah ich ein, wie gut der Rat gewesen war, denn die Nacht hatte mich auf den Gedanken gebracht, daß ich nicht besser thun könnte, als den Beschluß auf Freitag zu verschieben. Kurz und gut, nach reiflicher Überlegung – es war viel dafür und viel dagegen – sind wir gegangen, Sonnabend mittag, und Montag früh sind wir zurückgekehrt. Ich würde das nicht alles so erzählen, wenn es nicht im engsten Zusammenhange stände mit meinem Buch.

Fürs erste lege ich Gewicht darauf, daß der Leser wissen soll, warum ich nicht gegen die Dummheiten protestierte, die Stern letzten Sonntag sicher wieder ausgekramt hat – was ist das wieder für eine Geschichte von einem, der etwas hören soll, wenn er tot ist? Marie sprach davon, sie hat es von den Rosemeyers, die in Zucker machen, – zweitens aber weil ich aufs neue in meiner sicheren Überzeugung bestärkt worden bin, daß alle die Geschichten über Elend und Unruhe im Osten offenbare Lügen sind. Da sieht man, wie das Reisen einen instandsetzt, die Sachen gut zu ergründen.

Sonnabend abend nämlich hatte mein Schwiegervater eine Einladung angenommen bei einem Herrn, der früher im Osten Resident war und nun auf einem großen Landsitz wohnt. Da sind wir gewesen, und wahrhaftig, ich kann den angenehmen Empfang nicht genug rühmen. Er hatte seinen Wagen gesandt, um uns abzuholen, und der Kutscher hatte eine rote Weste an. Nun war es wohl noch ein bißchen kalt, um den Landsitz zu besehen, der im Sommer prachtvoll sein muß. Aber in dem Haus verlangte man gar nichts mehr. Da war alles, was Unterhaltung giebt, in Hülle und Fülle: ein Billardsaal, ein Bibliothekssaal, eine überdeckte eiserne Glasgalerie als Gewächshaus, und der Kakadu saß auf einem silbernen Griff. Ich hatte so etwas noch nie gesehen. Da sah man, wie gute Führung stets belohnt wird. Der Mann hatte auf seine Sachen acht gegeben, das sah man, denn er hatte wohl drei Orden. Er besaß einen herrlichen Landsitz, hatte außerdem ein Haus in Amsterdam, beim Souper war alles getrüffelt,[267] und auch die Dienerschaft bei Tische hatte rote Westen an, gerade wie der Kutscher.

Da ich mich viel für die indischen Dinge interessiere, um des Kaffe willen, brachte ich das Gespräch darauf, und ich sah sehr bald, woran ich mich zu halten hatte. Dieser Resident hat mir gesagt, daß er es da im Osten immer gut gehabt hat, und daß also von den Geschichten über die Unzufriedenheit in der Bevölkerung kein Wort wahr ist. Ich sprach dann auch von Shawlmann. Er kannte ihn, und zwar von einer sehr ungünstigen Seite. Er sagte, man hätte sehr recht gethan, ihn wegzujagen, denn dieser Shawlmann wäre eine sehr unzufriedene Person, der auf alles seine Bemerkungen machte, und daß außerdem in seiner eigenen Führung viel zu mißbilligen wäre. Er holte sich öfters Mädchen heran und brächte die nach Hause zu seiner Frau, und er bezahlte seine Schulden nicht, was doch sehr unanständig ist. Da ich nun aus dem Briefe, den ich gelesen hatte, so genau wußte, wie begründet diese Beschuldigung war, so freute es mich zu sehen, daß ich die Sachen so gut beurteilt hatte, und war mit mir selbst sehr zufrieden. Ich bin auch dafür bekannt an meinem Pfeiler – daß ich immer so ein richtiges Urteil habe, meine ich.

Der Resident und seine Frau waren liebe, edle Menschen. Sie erzählten uns viel von ihrer Lebensweise im Osten, es muß da doch sehr angenehmen sein. Sie sagten, daß ihr Landsitz bei Driebergen nicht halb so groß wäre, wie der, den sie in den Binnenlanden von Java gehabt hätten, und daß da wohl hundert Menschen nötig waren, um alles instandzuhalten. Aber, und das ist ein Beweis, wie beliebt sie waren, das thaten diese Menschen da ganz umsonst, und allein aus Ergebenheit. Auch erzählte sie, daß bei ihrer Abreise der Verkauf ihrer Möbel ihnen wohl zehnmal mehr eingebracht hätte, als sie wert waren, denn die inländischen Häupter kauften alle so gern etwas zum Andenken an den Residenten. Ich erzählte da später Stern, der behauptete aber, daß dies aus Zwang geschehe, und er wollte das aus Shawlmanns Paket beweisen; aber ich habe ihm gesagt, daß Shawlmann ein Verleumder ist, daß er sich Mädchen gekapert hat, wie der junge Deutsche bei Büsselinck & Waterman, und daß ich seinem Urteil durchaus keinen Wert beilege, weil ich jetzt von einem Residenten selbst gehört hatte, wie die Sachen standen, und daher von Shawlmann nichts mehr lernen könnte.

Da waren auch noch mehr Menschen aus dem Osten,[268] unter anderen ein Herr, der sehr reich war, und der viel Geld verdiente an Thee, den die Javanen für ihn für wenig Geld machen, den aber die Regierung von ihm für hohen Preis kauft, um die Javanen zur Arbeitsamkeit zu ermutigen. Auch dieser Herr war böse auf alle die unzufriedenen Menschen, die immer gegen die Regierung sprechen und schreiben. Er konnte die Verwaltung der Kolonien nicht genug loben; er sagte, er wäre überzeugt, daß bei dem Thee, den man von ihm kaufte, viel verloren würde, und es sei deshalb ein wahrer Edelmut, fortwährend für einen Artikel, der eigentlich wenig Wert habe, einen so hohen Preis zu zahlen; ihm selber schmecke er auch nicht, und er tränke immer chinesischen Thee. Auch sagte er: daß der General-Gouverneur, der die sogenannten Theekontrakte verlängert hatte, trotz der Berechnung, daß dem Lande viel dabei verloren ginge, so ein tüchtiger braver Mann sei, und vor allem ein so treuer Freund für alle, die ihn früher gekannt hatten; denn dieser General-Gouverneur hatte sich durchhaus nicht an das Gerede gestoßen, über den Verlust am Thee, und ihm, als von der Zurückziehung der Kontrakte die Rede war, einen sehr großen Dienst gethan. »Ja,« fuhr er fort, »das Herz blutet mir, wenn ich solche edlen Menschen verleumden höre; wenn er nicht gewesen wäre, müßte ich jetzt mit Frau und Kindern zu Fuß gehen! Dann ließ er uns seinen eleganten Wagen vorfahren, und der sah so fein aus, und die Pferde steckten so gut im Fleisch, daß ich wohl begreifen kann, wie man für solch einen General-Gouverneur vor Dankbarkeit glüht. Es thut einem in der Seele wohl, das Auge auf so wackere Gefühle zu lenken, besonders wenn man sie vergleicht mit dem verwünschten Murren und Klagen von Leuten wie dieser Shawlmann.

Den Tag darauf gab uns der Resident den Besuch zurück, und auch der Herr, für den die Javanen Thee machen. Beide fragten zugleich, mit welchem Zuge wir in Amsterdam anzukommen gedächten. Wir wußten nicht, was das bedeutete; aber später wurde es uns klar, denn als wir am Montag früh da ankamen, standen auf dem Bahnhofe zwei Diener, einer mit einer roten Weste und einer mit einer gelben Weste, die uns beide sagten, sie hätten telegraphisch Befehl bekommen, uns mit dem Wagen abzuholen. Meine Frau war ganz weg, und ich dachte daran, was wohl Büsselinck & Waterman sagen würden, wenn sie das sähen, ... daß zwei Wage für uns da waren, meine ich. Aber es war nicht leicht, eine Wahl[269] zu treffen, denn ich konnte mich nicht entschließen, eine der beiden Parteien zu kränken, wenn ich eine so liebenswürdige Aufmersamkeit ablehnte. Guter Rat war teuer; aber ich habe mich aus dem höchst schwierigen Zustande wieder herausgerettet. Ich habe meine Frau und Marie in den roten Wagen gesetzt, die rote Weste, meine ich – und ich habe mich ins gelbe gesetzt, in den Wagen, meine ich.

Wie die Pferde liefen! Auf der Weesperstraat, wo es immer so schmutzig ist, flog der Schmutz häuserhoch, und als ob es so sein sollte: da lief wieder der strolchige Shawlmman, in gebogener Haltung, den Kopf gesenkt, und ich sah, wie er mit dem Armel seiner kahlen Jacke sein bleiches Gesicht von den Spritzflecken zu reinigen suchte.«

Quelle:
Multatuli (Eduard Douwes Dekker): Max Havelaar. Halle a. d. S[aale] [o. J.], S. 258-270.
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