6.

[103] Die Satzbildung ist das gestaltete Leben des Gedankens, seine Gliederfülle, aber nicht ein Magisterrock mit besponnenen Knöpfen, in den er hineingesteckt und, mit Zubehör von Stiefeln und Stulpen, Rohrstock und Schnupftabakdose, absichtlich eingekleidet und ausstaffirt werden soll. Die deutschen Schriftsteller haben sich mit ihren Perioden viel zu große Mühe in äußerer, und viel zu wenig in innerlicher Beziehung gegeben. Stände ein höheres gesellschaftliches Element in Wechselwirkung mit unserer Schreibart, so hätte sie nie zu klagen gegeben über die meilenlangen Perioden, die man kaum auf dem Papier mit dem Auge, geschweige denn mit dem geistigeren Organ, dem Ohr, übersichtlich auffassen kann. Denn der menschliche Gehörsumfang, auf den bei der Satzbildung Rücksicht genommen werden sollte, ist beschränkt. Das[104] Ohr kann bekanntlich in einer Secunde nicht mehr als neun Töne von einander unterscheiden, und verlangt folglich, daß ihm Das, was es klar aufnehmen und zu geistigen Eindrücken verarbeiten soll, in bestimmt und gedankengemäß abgetheilten Pausen überliefert werde. Dies ist das innerliche Element von Musik, der Musik des Gedankens, worauf jede ächte Satzbildung sich stützen muß. Die Perioden, die Pausen des Gedankens, dürfen diesem musikalischen Gesetz nicht zuwider handeln, ohne auch des Gedankens Harmonie und Wirksamkeit zu zerstören.

Die innere Tonart einer jeden Darstellung, die aus der melodiegebenden Seele des Inhalts entspringt, muß vornehmlich die Satzbildung als das Nothwendige bedingen. Es giebt langsame und schnelle Tonarten des Gedankens. Im erstern Falle finden sich gehaltene, künstlichere und verschlungene Periodenreihen ein, das Epische und Pathetische herrscht vor; im andern kürzere, gedrängte, schlagfertige mit wenigstem Zwischensatz, ein drastischer Effect wird erstrebt. Beiderlei Tonarten werden sich fast in jeder Darstellung neben einander geltend machen,[105] obwohl von der organischen Verschiedenheit der Sprachen abhängig und bedingt. Der gesellschaftliche Charakter der französischen Sprache, ihre praktische Lebendigkeit, haben darin vornehmlich die kürzere, im raschen Moment wirkende Satzbildung begünstigt, weitaussehende Periodenverwickelung duldet der gesprochene Ausdruck der ganzen Darstellung nicht. Die deutsche Sprache, weil sie mehr eine geschriebene ist, neigt schon dadurch zu einer, größeren Verschlungenheit, einer überlegten und planmäßigen Periodisirung hin. Ist der französische Satz ein leichtgebildeter Weltmann, so ist der deutsche Periodenbau ein geistreicher Sonderling, dem auf seinem Gesicht ein einsames und vielfaltiges Brüten steht. In demjenigen Stil aber, der nur vom Gedanken beherrscht wird, kann die allzucomplizirte und gelehrte Periodenlagerung, der auch auf der gegenwärtigen Stufe der deutschen Sprache viel organisch Hinderliches entgegensteht, fortan kein gültiger Schematismus mehr sein, eben weil sie nichts ist als ein Schematismus. Einige Worte des Grafen Schlabrendorf, in seinen Bemerkungen über die Sprache, bezeichnen den allgemeinen Unterschied[106] zwischen französischer und deutscher Satzbildung sehr treffend auf folgende Weise. – »Die Kürze der französischen Perioden hat den Vortheil, daß sie die Aufmerksamkeit des Lesers oder Hörers, ohne ihn lange warten zu lassen, fast ebenso schnell befriedigt als erregt. Der Franzose fordert Klarheit. Da sich ihm ein größeres Ganzes nicht überschaulich darbietet, ein zu mächtiger Bissen seine Ungeduld reizt, hilft ihm die Sprache und giebt ihm die Sache theelöffelweis. Die längern deutschen Perioden fügen sich der Wißbegier des Hörers nicht so gefällig; aber sie haben den Vortheil, indem sie die Aufmerksamkeit festhalten, das Nachdenken zu vergrößern, und im gleichzeitigen Zusammenfall mehrer Gedanken einen Gesammtgedanken zu erzeugen, dessen der Franzose entbehrt. Ich möchte sagen, im Genius der deutschen Sprache waltet, um ein Bild von der Musik zu entlehnen, mehr die Harmonie vorwaltend; im Genius der französischen, die Melodie.«

Die Harmonie, welche in der Musik eine Totalwirkung mehrerer einzelner Reihen von Sätzen und Gegensätzen, eine Combination der Accorde und Intervalle ist, dürfte jedoch, in aller Ausdehnung[107] ihres Begriffs auf die deutsche Periodenbildung angewandt, meistentheils nur ein mißlautendes und verworrenes Concert abgeben. Wie große und imposante Wirkungen auch in manchen Tonarten der Darstellung durch weitumfassende Satzgebilde erreicht werden können, so hat doch unsere Sprache in ihren grammatischen Formen die Fähigkeit eingebüßt, etwas Vollendetes und Kunstgemäßes darin zu leisten. Die absoluten Genitive, die im Altdeutschen entschieden vorhanden waren, sind ein Verlust für unsere heutige Syntax, der nicht genug beklagt werden kann, denn ohne absolute Constructionen läßt sich kein freieres Satzgefüge aus vielverschlungenen Perioden bilden. Radlof schrieb im Jahre 1812 eine »Aufforderung an alle denkende Schriftsteller, die Wiedereinführung der absoluten Genitive aus dem Altdeutschen betreffend«,1 doch wie soll man eine dem Leben der Sprache entwichene Form durch Verabredung oder[108] Vorsatz wieder bannen? Viele An- und Nachklänge von jenem absoluten Genitiv finden sich noch heut in unserm modernen Sprachgebrauch, z.B. unverrichteter Sache abziehen, stehenden Fußes, stante pede, ein Zeichen, daß es in der Natur unserer Sprache liegt, bei absoluten Constructionen den Genitiv zu wählen, obwohl der urkräftigen Biegungsfülle des Gothischen auch absolute Dative eigen sind. Von Beispielen absoluter Genitive, die Radlof aus älteren Schriften, bis zur Zeit des dreißigjährigen Krieges, und auch noch aus neuern Ueberbleibseln des Kanzleistils, gesammelt hat, mögen hier einige stehen: »Der Sündfluß Noä, da die ganze Welt ersäuft ward, ausgeschlossen Noä mit seinen drei Söhnen«, Luther; »unangesehen desselben Vertrags, unterstund sich der Kunig«, im Wiß Kunig; »abgerechnet der Offiziere und Unter-Offizieren, werden die Gemeinen dem 13. Regiment zugewiesen«, bayerische Verordn. vom Jahre 1805–1806; »unerwogen aller Billigkeit verfahren«, bei Schottel; »daß Christus von einer Jungfrau, unverletzt ihrer Jungfrauschaft, geboren worden«, in[109] hundert alten, besonders katholischen Erbauungsschriften; »unerforscht aller Umständ,« Hans Sachs; »unverschont ihrer aller«, derselbe; »er lässet die Kinder, unwissend der Mutter, aufziehen, Joh. Limberg v. Roden Reisebeschr. Lpzg. 1690. u.m.a.

Obwohl man anstehen könnte, diese angeführten Genitive für eine absolute Construction im Sinne der antiken Sprachen zu halten, eher behauptend, hier sei das Verbum adverbialisch oder wie eine Präposition, die den Genitiv nach sich zieht, gebraucht, so müssen doch solche und ähnliche Wendungen ohne Zweifel für eine schöne Bereicherung und Befähigung unserer Syntax zu prägnanten Satzgefügen gelten. Damit sei aber nicht ausgesprochen, daß ihre absichtliche Zurückführung in die laufende Production der Sprache gelingen könne, zu unternehmen sei, da man einmal an einer Sprache nichts retten kann und soll, was sie nicht selber festhält2. Aus der Umschreibung und Auflösung[110] aller absoluten Fügungen, mit sobald, nachdem, als, wofern etc, die besonders von Gottsched für eine klare Correctheit des Stils angesehen wurde, stammt aber die Partikel-Pedanterie und das Labyrinth der Zwischensätze, wodurch eine längere Periode in unserer Schreibart zu einem wahren Ungeheuer verzerrt werden kann. Versuche einiger Uebersetzer des Tacitus, namentlich Woltmann's, zur Erreichung tacitischer Kürze die absoluten Sätze auch deutsch mit einer Präposition zu geben, z.B. interfecto Lepido »nach ermordetem Lepidus« zu übersetzen, sind ebenfalls unwirksam[111] geblieben und lächerlich geworden. Dagegen sind die sogenannten homerischen Genitive, »festen Trittes« »hochherzigen Sinnes«, die trotz Adelungs Gegeneiferung sich immer mehr ausbreiteten, ein ursprüngliches Eigenthum der deutschen Sprache und geben der Satzbildung ein schönes Gepräge. Bürger begann in seiner Uebersetzung des Homer deren mehrere zurückzuführen, nach ihm Voß mit noch größerer Festigkeit und Ausdehnung, aber auch Klopstock hatte schon in eigenen Gedichten wirksamen Gebrauch davon gemacht. Man hat öfters den Irrthum begangen, diese Genitive für etwas Griechisches anzusehn, während sie bereits in den Minnesängern, bei Hans Sachs, und bis ins siebzehnte Jahrhundert hinein, in deutschen Druckschriften sich finden, wie schon Radlof, in einem Aufsatz über Vossens Genitivfügungen, bemerkt hat. –

Die zweite Grundbedingung, neben dem eigenthümlichen Organismus der Sprache, ist die Einheit der intellectuellen Anschauung in der Periodenbildung. Man könnte sie auch die Einheitlichkeit der Scene im Satze nennen, unter welchem Namen sie besonders englische Rhetoriker,[112] namentlich Home und Hugo Blair, zu einem Haupterforderniß ihrer Theorie gemacht haben. Es darf inmitten eines und desselben Satzes keine zu verschiedenartige Scenerie vorgehen, sondern es muß sich vielmehr auch im festen Geschiebe der Perioden Scene aus Scene entwickeln und vor die Anschauung des Lesers hintreten. Die geschmacklose Einschachtelungsmanier des Stils ist gewöhnlich auch ein Fehler der Logik, daß verschiedene Gedanken, deren jeder für sich eine besondere Auffassung und Behandlung erfordert, in demselben Satz verbunden und vermischt werden. Ein neuer Gedanke muß immer eine neue Scene des Stils eröffnen, und daraus ergiebt sich von selbst die Nothwendigkeit, bald in längeren, bald in kürzeren Perioden zu schreiben. Mit jeder Periode beginnt ein neuer Athem auch für den Gedanken, und langathmige Perioden werden nur dann Schönheit und Berechtigung für sich haben, wenn sie von der Einheit des Gedankens, der sie gerade umspannt, fest zusammengehalten sind. Oft werden aber Gedanken zu Zwischensätzen gemacht, die einen neuen Athem erfordern, also einen neuen Satz anfangen[113] müßten, und dies ist eine sehr häufige und aller Schönheit nachtheilige Mißformung, von der es bei den besten deutschen Schriftstellern Beispiele in Menge giebt. Bürger bestritt sogar die Lehre von der Einheit der Scene im Satze als etwas Unwesentliches3. freilich zu einer Zeit, wo die deutsche Prosa nur wenige und spärliche Oasen in ihrer sonstigen Wüstenei aufzuzeigen hatte.

Der Athem des Gedankens ist der Beweger der Perioden, er muß sie abtheilen, gliedern, messen, verbinden, selbst ihren Klang bestimmen. Daher sind die bloß syntaktischen Satztheorieen, wie sie häufig aufgestellt werden, neuerdings besonders von Herling in seiner sonst so verdienstlichen und gründlichen »Syntax der deutschen Sprache«, eigentlich sehr unfruchtbar und zu Wenigem nütze. Auf der andern Seite aber darf die freie Schreibart nach dem Gedanken nicht aller organisch gegliederten Satzbildung sich enthoben meinen, und an das Extrem eines geistreichen Sanscülottenstils sich hingeben. Schriftsteller, wie Heine, Gutzkow,[114] Laube, Wienbarg und einige andere verläugnen in ihren kurzathmigen, rhapsodisch hingestellten Sätzen allzusehr das deutsche Element, und verdünnen unsere Sprachdarstellung ohne Noth zu der unperiodischen Schlagmanier der französischen. Es fehlt mehreren der genannten nur die gebildetere Periodisirung, denn der Gedanke legt sich nicht in assertorischer Aufstellung, sondern im dialektischen Periodengeflecht, auseinander. –

Fußnoten

1 Zuerst im Literarischen Verkündiger, München, 1812. Nr. 49–51. und dann in seinen Teutschkundlichen Forschungen und Erheiterungen, Bd. I. S. 41 fg.


2 Wie es bei Radlof lautet, der die absoluten Genitive ganz in seine eigene Schreibart aufzunehmen versucht hat, kann man z.B. an folgender Stelle (in seinen teutschkundl. Forschungen II. S. 68.) erproben: »Wiedererwachend des Eifers für Schriftenthum und Sprachen der alten, voran der gottbegeisterten Zeit, erwachte auch laut der Schmerz über die allgemeine Zerspaltung der Menschenzunge in so zahllose Sprachen, die, obwohl sie alle nur Eines und eben Dasselbe bezeichnen, dennoch je den einen Gedanken, z.B. Sonne, durch zahllose, sich ganz entfernte Wortlaute darstellen. Zerrissen der Sprache in Sprachen, des mächtigen allvereinenden Bandes, war auch aller Verkehr der Völker mit Völkern fremder Zungen und Zeiten unermeßlich erschwert worden.« etc.


3 Bürger's Lehrbuch des deutschen Stils, S. 292.


Quelle:
Theodor Mundt: Die Kunst der Deutschen Prosa. Berlin 1837, S. 115.
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