Vier und zwanzigstes Kapitel.

[246] Unter den Kranken, deren Anzahl sich jetzt durch die gute Wartung bis auf drey oder viere gemindert hatte, befand sich eine, welche von Anfang Idas besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte.

Eine große schweigende Dulderinn, die für alles Worte hatte, nur nicht für ihren Schmerz,[246] ihre Krankheit schien unheilbar zu seyn, eine gänzliche Aufzehrung aller Lebenskräfte, jene Ermattung, die eigentlich nur das hohe Alter herbeyführt, zu welchen die gute Nonne noch nicht den halben Weg zurückgelegt hatte. – Ihr Körper war es nicht allein welcher litt; ihre Seele duldete namlose Qualen, nicht von Sorge für die Zukunft, wie sie zuweilen in Stunden der Vertraulichkeit zu Ida sagte, die Zukunft lag heiter vor ihr in den Gefilden der Ewigkeit ausgebreitet, nein von Erinnerung des Vergangenen, welches, wie zuweilen eines ihrer Worte andeutete, schrecklich für sie gewesen seyn mußte. – Sie mußte alles verloren haben, was ihr lieb war, mußte es auf ungewohnt traurige Art verloren haben, kein Band schien sie mehr an die Erde zu fesseln, und zürnte mit dem Tode, daß er so lang zögerte ihr den Trank des Schlummers und der Vergessenheit zu reichen.

Ida wagte der bescheidenen Fragen viel an sie, aber nie bekam sie befriedigende Antwort. Sie fragte, wie lang sie litte? – Lang! war die Antwort. Wie lang sie unter die Kranken gezählt werde? Seit die Hofnung des nahen Todes mich fast gesund macht. Welchen Stand sie in der Welt behauptet habe? – Den elendesten! Was sie verloren habe? – Alles!

Die Gräfinn hatte den Glauben, daß kein Leiden der Erde ohne Linderung ist, wenn man[247] sich nur nicht scheut seine Wunde der Freundschaft zu enthüllen, sie sann Tag und Nacht darauf, ihrer geliebten Kranken ihr Geheimniß zu entreissen, sie las in ihren Mienen, setzte ihre gebrochenen Worte zusammen, und belauschte ihren Schlummer, ob sie nicht endlich etwas würde ausspähen, ein im Traum entfallnes Wort auffinden können, das ihr entdeckte, auf welcher Seite ihrer kranken Freundinn der lindernde Balsam beyzubringen sey, sie bekam sonderbare Muthmaßungen, aber dieß war auch alles. –

Endlich kam sie auf den glücklichen Einfall, Vertraulichkeit durch Vertraulichkeit zu erwecken, und die geliebte Nonne mit ihren eigenen Schicksalen bekannt zu machen. Die Kranke hatte der schlaflosen Nächte viel, oder vielmehr nur die kleinste Hälfte der Nachtzeit war bey ihr dem Schlafe gewidmet, die andere fiel einer Art von wachenden Träumen anheim, die zu schrecklich waren, als daß sie nicht die menschenfreundliche Ida auf alle Art hätten stören sollen.

Mitternacht ist vorüber, sagte sie einsmahl zu der Kranken, unsere Schwestern schlafen, womit soll ich auch euch den Schlaf herbey rufen? – Schlaf auch du, meine Ida, antwortete sie, und laß mich allein wachen. –[248]

Ach ich habe so manche Nacht in meinem Leben durchwacht, daß ich wohl gelernt haben kann den Schlaf zu entbehren! –

Du? – Glückliche pflegen sanft zu schlafen, wenn die Unglücklichen wachen! –

Haltet ihr mich für glücklich? – O solltet ihr die traurige Geschichte meines Lebens wissen! wie oft ich dem Tode nahe war, wie Schande und Verleumdung hinter mir herjagten, wie das Schwerd an einem dünnen Faden über mir hing, wie ich von denen getrennt wurde, die ich liebte! –

Getrennt? – durch Tod, Untreu, Verrätherey getrennt? – O erzehle! solche Geschichten sind gut für den zu hören, der ähnliches Leiden erfuhr!

Und Ida erzehlte.

Was sie erzehlte und erzehlen konnte, mein Leser, das weißt du, aber die Würkung, welche die Geschichte auf die Zuhörerinn that, ist schwerer zu errathen, blieb selbst Ida in den ersten Tagen ein Geheimniß. – Idas Erzehlung ward zu sehr mit kleinen uns unbekannten Umständen, mit Fragen von der einen, und Betrachtungen von der andern Seite durchwebt, als daß sie in einer Nacht hätte können geendigt werden, auch nutzte die Gräfinn nur die Stunden dazu, von welchen sie wußte, daß sie ihre Freundinn allemahl schlaflos zubrachte;[249] wenn der Morgen anbrach, der so manchen Kranken erst den Schlummer mitbringt, dann schwieg sie, die Augen ihrer Freundinn schlossen sich und auch sie legte sich zu einem kurzen Schlafe an ihre Seite.

Der Haupteindruck, den Idas Geschichte auf die Zuhörerinn machte, bestand anfänglich blos in vermehrter Neigung für die Erzählerinn, bey einigen Stellen merkte die Gräfinn wohl eine Art von Bewegung bey der Kranken, auch wohl einige hervorquellende Thränen, aber sie wußte nicht recht, was sie aus denselben machen sollte. Diese Bewegung, diese Thränen kamen oft an Stellen zum Vorschein, wohin sie gar nicht gehörten, mußten vielleicht durch Nennung eines bekannten Namens, durch Erregung einer verwandten Idee hervorgebracht werden; man kennt die Eigenheiten schwacher Gemüther, auch Ida kannte sie, und war klug genug, sie unbemerkt vorübergehen zu lassen.

Ida war ganz offenherzig gegen ihre Freundinn; was hätte sie für Ursach haben können, ihr einen einigen Umstand ihrer Geschichte zu verschweigen? und wie konnte sie wissen, welcher Theil derselben die Wirkung hervorbringen würde, welche sie wünschte?

Die Gräfinn war in ihrer Geschichte ohngefehr bis dahingekommen, wo Herrmann ihr seine[250] Begebenheiten auf dem Schlosse Cyly erzählte, und ihre genaue Aufmerksamkeit auf die Zuhörerinn hatte gemacht, daß sie sahe, sie dürfe nur einen oder zween Namen nennen um der Kranken einen Seufzer oder wohl gar eine Thräne abzulocken; eine Entdeckung, welche ihr Muthmaßungen einflößte, die sie schon oft aus andern Gründen gehabt, aber immer als unwahrscheinlich wieder verworfen hatte. – Sie machte die Probe einigemahl und ward ihrer Sache gewiß.

Sie wußte noch zwey Personen in ihrer Geschichte, deren Nennung den heftigsten Eindruck auf die Hörerinn machen mußten, wenn sie wirklich diejenige war, für welche Ida sie nach und nach zu halten geneigt wurde. Sie sparte diese theuren Namen, besonders den einen derselben, sorgfältig auf einen Augenblick, vermied, sie zu frühzeitig zu erwähnen, und fuhr, als sie an die Stelle kam, welche sie zu Enthüllung des großen Geheimnisses bestimmt hatte, in ihrer Erzählung, welche sie jetzt bis auf ihre Ankunft im Kloster Nikola gebracht hatte, folgendermaßen fort:

»Ich habe euch gesagt, daß es Herzog Albrecht von Oesterreich war, welcher mich zu Nürnberg in Schutz nahm, und mir in einem ungarischen Kloster Sicherheit zu schaffen versprach. Ich war, wie ihr wißt, durch ganz andere Mittel nach Ungarn gekommen als durch seine Hülfe,[251] aber ich vergaß nicht die Aufträge, die er mir in diesem Lande gegeben hatte. O Schwester! – Aufträge von der größten Wichtigkeit, Aufträge, an welchen das Glück vieler Personen haftete. Soll ich sie euch entdecken? – doch ich kann es ohne Gefahr!

Herzog Albrecht – Mich wundert, daß ihr dieß nicht zu wissen scheint, – war der versprochene Gemahl einer liebenswürdigen Prinzessinn, diese Prinzessinn hatte eine Mutter, die man sechszehen Jahr lang für tod gehalten, von deren Leben man jetzt zu sprechen begunnte; die letzte, diese große unglückliche Dame in diesen Gegenden aufzusuchen, war das mir aufgetragene Geschäft. Herzog Albrechts Braut hieß Elisabeth, ihre Mutter Marie.«

Elisabeth? Marie? wiederholte die Nonne mit einem Tone, der sich besser denken als beschreiben läßt.

Elisabeth König Siegmunds Tochter! fuhr Ida fort, und Marie, der unglückliche Königinn von Ungarn.

Ja wohl unglücklich! rief die Kranke mit zusammengeschlagenen Händen. – Aber ihr sprecht von lauter Toden. Marie ist tod, muß tod bleiben! – und Elisabeth? – sonderbar, sie starb ja in ihren ersten Kinderjahren![252]

Elisabeth? – ihr irrt. Sie lebt, ist die Erbinn von Ungarn, und die Verlobte des edelsten Fürsten der Welt –

Unmöglich! unmöglich! – O daß ihr wahr reden möchtet, daß ich dieß liebe Kind noch einmal an meinen Busen drücken könnte!

Ida sah jetzt deutlich, was auch meine Leser sehen, vielleicht schon längst gemuthmasset haben werden. Ihr Herz hub sich vor Freude und Kummer hoch empor, aber sie unterdrückte ihre Gefühle und fuhr fort.

Wollte Gott, daß ich euch die Prinzessinn, die euch so lieb zu seyn scheint, augenblicklich darstellen könnte, aber sie lebt weit von hier, lebt im Kloster Klausenburg; doch eine Freundinn von ihr, eine Zeuginn ihres Lebens ist in der Nähe, ist zu Sankt Nikola. Die Fürstinn Rosa Gara. –

Die Fürstinn Gara? – Träumerinn! auch diese ist tod, ihr wißt, sie starb bald darauf als ich – als Marie die junge Elisabeth zur Welt brachte –

Die Fürstinn Rosa Gara lebt, lebt zu Nikola, ich kam aus ihren Armen in dieses Kloster. –

Rosa lebt? meine Rosa Gara lebt? Elisabeth lebt? – O Uebermaß von Freude! – Nein! unmöglich! –

Marie war bey diesen Worten ohne Empfindung zurückgesunken. Die entzückte Ida knietw[253] an ihrem Lager, strebte sie zu erquicken, und netzte ihre Hände mit ihren Thränen. Meine Königinn rief sie, theure unglückliche Marie! erwacht, erwacht zu besseren Tagen! –

Marie erwachte, richtete sich hoch auf, sah wundernd um sich her, that neue Fragen, erhielt ihre Beantwortung, konnte der entzückten Ida nicht mehr verheelen, wer sie war, warf sich in ihre Arme, weinte an ihrem Busen, rief noch tausendmahl, ob es möglich sey, ward überzeugt, und erlag unter dem Uebermaas ihrer Gefühle.

Nicht leicht konnte eine der wichtigsten Entdeckungen besser vorbereitet und mit mehr Schonung behandelt worden seyn als diese, und doch that sie die gefährlichste Wirkung auf das Gemüth der Königinn.

Sie ward todtkrank, Ida weinte an ihrem Lager und hielt es für unmöglich sie zu retten. Ach seufzte sie, hätte ich sie nur erst in die Arme ihrer Geliebten liefern, ihr nur noch diesseit des Grabes die Freuden des Wiedersehens gewähren können!

Die Gräfinn ging zu der Aebtissinn, und bat mit der Demuth, die sie jetzt hatte lernen müssen, man möchte der todtkranken Schwester Veronika – (dies war Mariens Klosternahme) – vergönnen sich nach Sankt Nikola bringen zu lassen,[254] um in der dasigen gesunden Luft eher zu genesen oder ruhiger zu sterben. –

Sie ward mit Ungestüm abgewiesen! – Man fragte sie, ob ihr die Lust zu wandern von neuem ankäme?

Ich bitte nicht für mich, antwortete Ida, nur für die Kranke, man vergönne mir, sie dort hinzubegleiten, und nachdem ich den dasigen Wärterinnen gesagt habe, wie sie zu behandeln ist, in dieses Kloster zurückzukehren, das ich in Demuth als den Ort meiner Bestimmung erkenne

Die Aebtissinn meynte, an dem Leben der elenden Veronika sey nicht so viel gelegen. Ida merkte, daß Marie hier wirklich nicht unter ihrem wahren Namen bekannt sey, wagte es nicht, sie zu entdecken, und ging traurig nach der königlichen Kranken zurück.

Quelle:
Benedikte Naubert: Herrmann von Unna. Theile 1–2, Teil 2, Leipzig 1788, S. 246-255.
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