2.


Der goldene Zahn.

Gegen das Ende des sechszehnten Jahrhunderts war in Schweidnitz ein Knabe von zehen Jahren, welcher einen goldenen Zahn hatte.[55] Man staunte in jenen Zeiten eine solche Begebenheit als das größte Wunderwerk an, jedermann lief herzu, um dieses Wunderkind zu sehen, und man überhäufte es mit Geschenken. Ein vormaliger Schweidnitzischer Arzt, Jakob Horst, hörte zu Helmstädt, wo er damals Professor war, von der Begebenheit, und sie dünkte ihm so wichtig, daß er ein eigens Buch darüber schrieb1, in welchem er diesen Gegenstand weitläuftig abhandelte.


»Die Erzeugung des goldenen Zahns, heißt es darinn, ist dadurch geschehen, daß die ernährende Kraft, vermittelst der Zunahme der Hitze, wunderbarlich verstärkt worden ist, wodurch also, statt der Knochenmaterie, Goldstoff abgesondert worden ist. Die Sache überhaupt ist aber übernatürlich, und hängt von der Constellation ab, unter welcher der Knabe gebohren ist. Am Tage seiner Geburt (den 22. Dec. 1586) hat die Sonne in Conjunktion mit dem Saturn im Zeichen des Widders gestanden. – Diese wunderbare Begebenheit hat ihre große Vorbedeutung, so gut wie eine jede Sonnen- und Mondfinsterniß und jedes Erdbeben, und er bedeutet das goldene Zeitalter, welches vor der Thüre ist. Der Römische Kaiser[56] wird den Türken, den Erbfeind der Christenheit, aus Europa verjagen, und alsdann ist das tausendjährige Reich und das goldene Zeitalter erschienen. Daß diese Prophezeihung wahrhaft und in der Natur gegründet ist, kann man aus dem Propheten Daniel Kap. 2 sehen, bey welchem der goldene Kopf der Bildsäule das große Reich bedeutet. Weil aber bey dem Schlesischen Knaben der goldene Zahn der letzte in der Reihe der Zähne ist, so wird auch die große Monarchie des Römischen Kaisers kurz vor der Zukunft Christi zum Gericht hergehen. Und da der goldene Zahn in der unteren Kinnlade und auf der linken Seite sitzt, so wird dadurch angezeigt, daß viele Plagen und Trübsal vor dem goldenen Zeitalter vorhergehen werden.«


Horst bekam aber bald einen seiner Collegen zum Gegner, welcher zeigte2, daß die Geschichte mit dem goldenen Zahne Betrügerey sey, und daß der Zahn blos mit Goldblech überlegt sey. Er hatte bemerkt, daß die Wurzel nicht golden war, auch daß er dicker war, als die übrigen, und daß der nebenstehende Backenzahn fehlte: endlich, daß sich das Kind seit einiger Zeit nicht mehr von Gelehrten, sondern blos von gemeinen leichtgläubigen Leuten, besehen ließ. Er fügte die Prophezeihung hinzu, daß das Wunderwerk bald[57] von selbst aufhören werde, welche auch richtig eintraf.


Es kamen noch mehrere Schriften über diese Erscheinung heraus. Unter andern wechselten zween Aerzte darüber heftige Streitschriften – nicht über die Wirklichkeit der Geschichte, diese glaubten beyde – sondern über die Entstehung des Zahns. Ruland behauptete, daß er auf eine natürliche, und Ingolstetter, daß er auf eine übernatürliche Art entstanden sey.[58]

Fußnoten

1 De aureo dente maxillari pueri Silessi. Lips. 1595. 8. (Von dem goldenen Kinnbackenzahn des Schlesischen Knaben.)


2 Liddelius de dente aureo, Hamburgi, 1628. 8.


Quelle:
[Nebel, Ernst Ludwig Wilhelm:] Medicinisches Vademecum für lustige Aerzte und lustige Kranken [...] Theil 1–4, Frankfurt, Leipzig 1795 (Bd. 1), 1796 (Bd. 2); Berlin, Leipzig 1797 (Bd. 3); Berlin, Leipzig 1798 (Bd. 4).
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