15.


Sonderbare Einbildung von Melancholischen.

[100] Ein Melancholischer, der in allen übrigen Stücken vernünftig war, bildete sich ein, daß er eine gläserne Nase habe, und getraute sich daher nicht, sie anzurühren, und sich der Hitze oder Kälte auszusetzen. Ein Anderer glaubte, daß er gläserne Füße habe, und gieng deswegen immer sehr langsam und bedächtlich, aus Furcht, sie zu zerbrechen.


Börhaave kannte einen Menschen, welcher sich überzeugt glaubte, daß seine Füße Strohhalmen seyen, und welcher aus diesem Grunde niemals ausgieng.
[100]

Weigel hatte einen Freund, welcher sich einbildete, er sey ein Hahn, und deswegen krähte er beständig, und gieng in der Einsamkeit herum, aus Furcht, man möchte ihn schlachten.


Caspar Barläus bildete sich ein, er sey von Butter, er hütete sich deswegen vor jeder Wärme, weil er fürchtete, zu zerschmelzen.


Der Dichter Pascal gerieth auf die Einbildung, es sey ein feuriger Abgrund neben ihm: er getraute sich deswegen nicht, sich von der Stelle zu bewegen, aus Furcht, er möchte hineinstürzen.


Ein anderer stand in dem Wahn, daß er so dick und breit sey, daß er schlechterdings nicht aus der Thüre seines Zimmers hinaus kommen könne. Da alle beygebrachte Gründe und gütliche Vorstellungen vergebens waren, packte man ihn mit Gewalt an, um ihn durch die Thüre durchzubringen, und ihn durch den Augenschein von seiner Einbildung zu überführen. Er schrie heftig, und wehrte sich, wie ein Verzweifelnder; und zuletzt, da man ihn in die Thüre gebracht hatte, that er einen lauten Schrey, und verschied.


Wiederum ein anderer glaubte überzeugt zu seyn, wie Zimmermann erzählt, daß er ein Gerstenkorn sey, und war deswegen auf keine Weise zu bewegen, auf die Straße zu gehen, weil er sich fürchtete, von einem Huhn gefressen zu werden.
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Ein Melancholischer entlief seinen Wächtern. Nachdem man ihn an allen Orten vergeblich gesucht hatte, fand man ihn am siebenten Tage auf dem Glockenthurme unter einer Glocke sitzen, und ungeachtet er ganz schwach und abgezehrt war, weigerte er sich hartnäckig, seinen Platz zu verlassen, weil er eine Glocke sey, und die Uhr anschlagen müsse.


Ein anderer hatte die närrische Einbildung, er sey Gott der Vater. Er war in allen übrigen Stücken so vernünftig, daß die Aufseher des Narrenhospitals, in dem er sich befand, ihm seine völlige Freyheit ließen, und ihm sogar erlaubten, die Fremden, welche das Hospital besehen wollten, herumzuführen. Er verwaltete auch dieses Amt zu jedermanns Zufriedenheit, und wußte die Geschichte eines jeden Verirrten genau und zusammenhängend zu erzählen. Zuletzt kam er allemal an einen, der, wie er sagte, der größte Narr unter allen sey. Denn, erzählte er, er giebt sich für Gott den Sohn aus, und ich müßte dieses doch am besten wissen, denn ich bin Gott der Vater.


Ein anderer in einem Narrenhospitale, der in allen Stücken ganz vernünftig war, bekam jeden Nachmittag, sobald die Glocke vier schlug, seinen Anfall von Wahnsinn. Er pflegte alsdann einem Esel, den er jedesmal in dem Hofe fand, die Füße zu waschen und rein zu putzen. So lange er seinen[102] Esel hatte, war er zufrieden, und that Niemanden etwas zu Leide. Fand er diesen aber nicht, so bekam er die allerstärksten Anfälle von Muth. In Tristram Shandy's Leben und Meinungen kommt eine ähnliche Geschichte vor, mit der kleinen Abänderung, daß er dem Esel die tauben Haare mit den Zähnen ausgebissen habe.

Quelle:
[Nebel, Ernst Ludwig Wilhelm:] Medicinisches Vademecum für lustige Aerzte und lustige Kranken [...] Theil 1–4, Frankfurt, Leipzig 1795 (Bd. 1), 1796 (Bd. 2); Berlin, Leipzig 1797 (Bd. 3); Berlin, Leipzig 1798 (Bd. 4), S. 100-103.
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