4.


Charakteristik eines unruhigen Sonderlings.

[123] R. ist dreißig Jahre alt, spricht deutsch, ungarisch, slavisch und lateinisch, und hat die sonderbare Sitte, sich an keinem Orte lange aufhalten[123] zu können. Er liebte dieses unstätte Herumirren bereits als Knabe, da er sich auf Schulen die ersten Kenntnisse erwarb. Es ist beinahe keine Lehranstalt in Ungarn, die er nicht besucht hätte. So lange man ihn als einen Gast behandelt und bewirthet, spricht er ganz vernünftig; sobald er aber ermahnt wird, an einem Orte länger zu bleiben: so wird er fast rasend, und verflucht seine Feinde, die ihn an seinem Glücke hindern wollen. Auf seinen Reisen sucht er überall Beförderung; kaum hat er aber irgend ein Aemtchen erhalten: so denkt er schon an eine Veränderung, sucht sich von der Stelle, welche er bekleidet, los zu machen, und geht weiter. Seit dem Jahre 1785 war er Schullehrer in Mähren, Böhmen und Ungarn, Privatlehrer in Siebenbürgen, Canzellist und Comitats-Heiduck. Es muß ihm aber jede Lage mißfallen, weil er sich bei der Uebernahme eines jeden Amtes an einem bestimmten Orte aufhalten muß. Seine beständige und herrschende Neigung ist das Herumreisen. Einen Aufenthalt von drei Tagen an einem Orte ist für ihn eine Ewigkeit. Der Trieb nach neuen Vorstellungen und neuen Ortsverhältnissen scheint bei ihm ganz ausgeartet zu sein; wie dieß der Fall bei jedem Triebe sein kann. Unregelmäßige Beschäfftigung und Zerstreuungssucht kann zur Begründung einer solchen Neigung vieles beitragen. Auf seinen Reisen schleppt er immer seine Schulbücher und Hefte mit. Seine gewöhnliche Marschroute ist[124] folgende: Er gehet aus dem Thurotzer Comitat, wo seine Mutter wohnt, in die Trentschiner, Arver, Liptauer und Zipser Gespannschaften, und wieder nach Hause, setzt dann seine Reise in den Trentschiner, Neutrauer und Presburger Gespannschaften weiter fort, irrt jenseits der Donau herum, und kehrt wieder zurück. Fragt man ihn, wo er hin reise? so giebt er zur Antwort, er suche eine Condition. Er klagt nie über Mattigkeit von den vielen Reisen. Bei Unterredungen über die Religion spricht er am liebsten von den Eigenschaften Gottes. – Er trinkt gerne erhitzende Getränke, welche seine Phantasie noch mehr in eine unregelmäßige Thätigkeit versetzen mögen.


Ebendaselbst. Erstes Bändchen. S. 267.

Quelle:
[Nebel, Ernst Ludwig Wilhelm:] Medicinisches Vademecum für lustige Aerzte und lustige Kranken [...] Theil 1–4, Frankfurt, Leipzig 1795 (Bd. 1), 1796 (Bd. 2); Berlin, Leipzig 1797 (Bd. 3); Berlin, Leipzig 1798 (Bd. 4), S. 123-125.
Lizenz:
Kategorien: