Erster Abschnitt

[355] Das Schiff, worauf sich Sebaldus befand, segelte eine Zeitlang mit gutem Winde und näherte sich schon der holländischen Küste. Plötzlich aber stieg in Osten ein Sturm auf, schleuderte das Schiff, Vlie und Texel vorbei, und warf es an die nordholländische Küste, wo es, da der Wind in Nordwest lief, unweit Egmont scheiterte. Der Schiffer und die vornehmsten Personen wollten sich in einem Boote retten, aber es sprangen zu viele hinein, und das Boot sank in dem Augenblicke, da die darin befindlichen Unglücklichen das auf dem Sande festsitzende Schiff von den Wellen zerschmettert sahen.

Jeder arbeitete mit äußerster Anstrengung gegen die ungestümen Wogen, aber die meisten ermatteten und gingen zugrunde. Sebaldus war unter den wenigen, die von den Wellen ans flache sandige Ufer geworfen wurden. Er kroch mit äußerster Mühe den Strand hinan, denn durch den heftigen Regen und Wind, das verschluckte Seewasser und die ausgestandenen Mühseligkeiten waren seine Kräfte beinahe ganz erschöpft. Nahe bei ihm ward der Körper des Schiffers ans Land geworfen. Der halbtote Sebaldus strengte sich an, um seinem Wohltäter zu helfen; umsonst, es war kein Zeichen des Lebens an dem Körper hervorzubringen. Dieser neue Kummer überwältigte die geringen Lebenskräfte des kaum noch Atem schöpfenden Sebaldus. Er sank in Ohnmacht, worin er eine geraume Zeit liegenblieb. Als er ein wenig zu sich selbst kam, sah er in dem schrecklichsten Wetter, da sich nur das äußerste Wüten des Sturms gelegt[355] hatte, einige Strandbewohner beschäftigt, die Überbleibsel der Ladung des zertrümmerten Schiffes aufs eilfertigste plündern, ehe sie der Schout in Egmont etwa ertappen könnte; um ihn aber bekümmerte man sich so wenig als um die toten Körper. So lag der hilflose Mann den Rest des Tages, verlassen von der ganzen Natur. Trostlos, das Leben, dessen er schon vorher satt war, nicht weiter wünschend, fiel er endlich aus gänzlicher Ermattung in ein taubes Hinbrüten zwischen Schlummer und Ohnmacht; sein letztes Bewußtsein war der Wahn, daß sein Hinsinken des Todes Anfang sei.

Mit Tagesanbruche erwachte er, nur zu empfinden den erwärmenden Strahl der Sonne und die Ruhe des besänftigten Meeres, aber ohne Kraft, sich zu bewegen, ohne Anschein von Hilfe, in der Totenstille der Gegend; die Hoffnung des nahen Todes sein einziger Gedanken.

So fand ihn nach einigen Stunden ein gutherziger nordholländischer Fischer. Da an ihm noch einige Zeichen des Lebens zu spüren waren, schleppte ihn der Fischer weiter den Strand hinauf, erquickte ihn, so gut er konnte, und fand endlich Mittel, ihn bis in seine Hütte zu bringen. Hier verpflegte ihn der mildtätige Nordholländer, wie es seine eigene Armut erlaubte, so daß der Kranke bald wieder an Kräften zunahm.

Beide konnten nur mit vieler Mühe einander verstehen, durch Hilfe des Plattdeutschen, das Sebaldus in Holstein gelernet hatte. Dieser verhehlte seine Verlegenheit nicht, von allem Notwendigen entblößt, die weite Reise nach Ostindien zu unternehmen, die in dem gegenwärtigen Elende noch seine einzige Hoffnung war. Da der Fischer vernahm, daß Sebaldus lutherisch und ein Prediger sei, schlug er ihm vor, ihn zu einem lutherischen Prediger nach Alkmar zu bringen, der ihm zu fernerem Fortkommen behilflich sein werde.[356]

»Weg«, rief Sebaldus, durch mannigfaltiges Unglück erbittert, »weg mit den Geistlichen, sie sind an allen meinen Leiden schuld! Wehe mir, wenn ich mich wieder an sie wenden sollte!«

»Aber dieser«, sagte der Fischer, »ist ein frommer, wohltätiger Mann.«

»Wohltätig?« rief Sebaldus voll Unwillen. »Ich kenne sie! Sind sie nicht kalt und hartherzig, so tun sie nur denen Gutes, die mit ihnen im gleichen engen Zirkel ihrer Lehrmeinungen herumgehen; außer demselben bestreiten sie, verdammen, lassen Hungers sterben, sosehr sie vermögen.«

»Dieser ist aber doch ein recht guter Mann«, versetzte der Fischer. »Der vorige Prediger hat immer mit der ehrwürdigen Klassis viel Streit gehabt; dieser aber verträgt sich mit den Reformierten und mit den Mennoniten so wie mit seinen eignen Glaubensbrüdern.«

»Er ist verträglich?« rief Sebaldus. »Wohl, so laßt uns zu ihm gehen. – Doch, lieber Mann«, sagte er seufzend, indem sie fortgingen, »wißt Ihr nicht einen gutherzigen Krämer oder Bauern? Zu dem würde ich mehr Zutrauen haben.« Der Fischer wußte sonst niemand, und sie gingen nach Alkmar.

Als sie in des Predigers Haus traten und ihn zu sprechen verlangten, rief ihnen die Magd entgegen: »Ihr werdet ihn jetzt nicht sprechen können, denn er ist eben von dem Leichenbegängnisse seines einzigen Sohnes zurückgekommen und noch ganz in Traurigkeit versunken.« Doch als sie die Fremdlinge anmeldete, wurden sie vorgelassen.

Der Fischer sagte ihm kurz, er bringe ihm einen auf der See verunglückten lutherischen Prediger aus Deutschland, der nach Ostindien habe gehen wollen, weil er sonst nirgend habe Hilfe finden können.[357]

Der Prediger fragte den Sebaldus lateinisch, was ihn bewogen habe, sein Vaterland zu verlassen.

»Unglück und Mangel«, antwortete Sebaldus, sich nicht getrauend, gegen den Prediger eine nähere Veranlassung anzugeben.

»Aber Unglück und Mangel läßt sich besser in der Nähe abhelfen, ohne die Seinigen zu verlassen.«

»Ach, mir ist niemand übrig, der mich vermissen könnte, niemand ist« (die Tränen flossen ihm über die abgehärmten Wangen) »in diesem ganzen Weltteile, den ich den Meinigen nennen könnte.«

»Du bist also nicht verheiratet, Freund, hast keine Kinder?«

Er sah den Sebaldus starr an und seufzte.

»Ach, meine Frau ist längst vor Kummer gestorben. Kinder? Ach ja, leider, ich habe Kinder. Eine Tochter, die meiner ganz unwürdig ist; einen Sohn, der in der Welt herumirret, seinen Vater längst vergessen hat – oder vielleicht auch« – setzte er verzweifelnd hinzu – »nicht mehr herumirret, denn seit zwei Jahren habe ich keine Nachricht von ihm.«

»Und du nennest dich unglücklich, Freund, da du Kinder hast? Sieh mich an!« Er bedeckte sein Angesicht mit der Rechten. »Mein einziger Sohn ist tot, die Stütze meines Alters ist dahin! – Wollte Gott, er irrte noch in der Welt herum. – Ich wollte auf ihn warten, jahrelang warten! Hätte er Fehler begangen, welches göttliche Vergnügen, ihn zu bessern, ihm in meinen väterlichen Armen zu vergeben! Du hast unrecht, Freund! Dein Sohn wird von seinen Wanderungen zurückkehren, deine Tochter wird den Irrweg verlassen, ins väterliche Haus, zur Tugend zurückkehren wollen – und das väterliche Haus ist leer! Ihr Vater ist von ihnen geflohen! – Ach, Freund, sie sind unglücklicher als du!«[358]

»Für mich ist kein Haus mehr da!« – Er sah den Prediger mit starrer Verzweiflung an. – »Nicht einmal ein Obdach in diesem ganzen Weltteile!« Sein Haupt senkte sich, und er legte seine gefalteten Hände auf die Knie.

»Und wer hat es dir genommen?« sagte der Prediger mit einem Tone voll holländischer Kälte, die Sebaldus für Gleichgültigkeit nahm.

»Priester haben mich verfolgt«, versetzte Sebaldus auffahrend, »weil ich die Wahrheit bekannte« – er stand hitzig auf –, »haben mich von Lande zu Lande gejagt, wollen mich nicht einen Bissen Brot essen lassen.«

»Und, Freund, du bist gewürdigt worden, um der Wahrheit willen zu leiden, und nennest dich unglücklich? Weißt du nicht, welcher Lohn deiner dort wartet? – Wer waren die Feinde, die dich verfolgten? Vermutlich herrschsüchtige Prälaten, blutgierige Mönche, die Gott einen Dienst zu tun glauben, wenn sie die Ketzer vom Erdboden vertilgen? Unsere reformierte Brüder in Deutschland denken wohl zu gut, um ihre protestantischen Brüder zu verfolgen, wie hierzulande noch bisweilen geschieht.«

»Ach, Reformierte? Lutheraner waren es, der Reformation Erstgeborne, die auch nur allein die reine Lehre geerbt zu haben glauben.«

Und nun, weil der gute Mann durch den Anblick der niederdrückenden Last seiner Unglücksfälle seine gewöhnliche Sanftmut und mit der Hoffnung eines bessern Zustandes auch seine Besonnenheit verloren hatte, kam seine ganze Geschichte und alle seine heterodoxen Meinungen an den Tag.

Der Prediger, voll Erstaunen, saß einige Minuten stille, schlug die Hände zusammen und rief:

»Wie? Keine Genugtuung, keine Erbsünde, keine ewigen Strafen? Freund, du behauptetst verderbliche Irrtümer,[359] die mit dem einzigen Wege zur Seligkeit nicht bestehen können!«

Sebaldus hob ungeduldig die Augen empor und redete den Fischer in gebrochenem Holländisch an:

»Kennt Ihr keinen Handwerker oder Taglöhner, der noch nichts vom einzigen Wege zur Seligkeit gehört hat, der wird vielleicht noch einen Bissen Brot mit mir teilen. Ich sagt's Euch ja gleich, daß wir hier nichts ausrichten würden.«

Damit wandte er sich zornig um und wollte zur Türe hinausgehen.

Der Prediger sprang auf, drehte den Sebaldus mit beiden Händen herum, hielt ihn fest, schaute ihm gerade ins Gesicht und rief:

»Mensch! Warum verabscheust du einen Menschen, der den Weg zur Seligkeit für einzig hält? Warum hassest du ihn, ehe du ihn kennest?«

Sebaldus, bei dem der schnelle Zorn allemal der Übergang zur Selbsterkenntnis war, antwortete mit sehr gemäßigter Stimme:

»Ich hasse niemand; aber, Gott weiß es, diese Priester, welche ausschließende Seligkeit an Lehrformeln binden, haben mich gezwungen, sie zu verabscheuen, weil sie jeden hassen und verfolgen, der, so wie ich, glaubt, daß Leben und nicht Lehre hier rechtschaffen und dort selig mache.«

»Und wenn du«, erwiderte der Prediger, indem er die Hände sinken ließ und seine Rechte auf Sebaldus' Schulter legte, »glaubst, daß man bei jeder Lehrmeinung rechtschaffen sein kann, warum willst du, daß man es nur bei der orthodoxen lutherischen Lehre nicht sein könne, welche fromme Leute in Form gebracht haben, welche die Kirche angenommen und die Obrigkeit bestätigt hat?«[360]

»Guter Alter«, versetzte Sebaldus etwas stammelnd, »wenn du soviel Ungemach von herrschenden Rechtgläubigen erlitten hättest als ich, so würdest du die Frage nicht tun. Sie verdammen den, der anders denkt als sie, in alle Ewigkeit, und hier auf Erden hassen sie ihn als einen Verdammten und vertreiben ihn, soweit sie ihn erreichen können.«

»Und das tun alle? Kennst du sie alle? Freilich, mein Freund, wer herrschen will, wird verfolgen. Auch ich lebe unter einer herrschenden Kirche, die verfolgt, soweit es die Obrigkeit zuläßt. Aber dazu treibt nicht Lehre, sondern Herrschsucht und Rechthaberei. Du hast Ungemach erlitten von heftigen und herrschsüchtigen Männern, die orthodox waren. Freund! Hast du noch keinen Heterodoxen gesehen, der auch herrschsüchtig war? – Dann hättest du weniger Erfahrung als ich. Ich habe schon oft mit dem ersten Keime der Heterodoxie auch Eigendünkel und Rechthaberei aufsprossen sehen.«

Sebaldus, beschämt, vermeinte: die böse Lehre von der ewigen Verdammnis mache doch die Gemüter so sehr geneigt, denjenigen, den man schon als einen künftig ewig Verdammten ansieht, auch schon hier zu verabscheuen.

»Mein Freund«, rief der Prediger, »die dordrechtischen Rechtgläubigen dieses Landes haben nebst der Ewigkeit der Höllenstrafen noch die unbedingte Prädestination. Und dennoch ist in Alkmar so mancher brave Kalvinist, der mich nicht für prädestiniert hält, aber doch mich herzlich liebt. Ich bin lange in Amsterdam gewesen, wo hundert Sekten sich ihrem Lehrsysteme nach verdammen und friedlich nebeneinander leben.«

»Ich bin«, fiel ihm Sebaldus hastig ins Wort, »in Berlin gewesen, wo auch Religionsverwandten aller Art friedlich[361] miteinander umgehen, und ich habe dort nichts vom Verdammen gehört – ausgenommen etwa einmal.«

»Ei«, rief der Prediger, »wenn du es auch nur einmal gehört hast, so wird es doch wohl auch dort mehrmal geschehen. Höre meine Meinung: Nach meinem Lehrsysteme, das ich jahrelang durchgedacht habe, bist du – ich kann es nicht bergen – in Irrtümern, die deiner künftigen Seligkeit hinderlich sind, wenn Gottes Gnade nicht viel weiter geht als die Einsichten, die ich aus seinem Worte schöpfen kann. Hierüber getraue ich mir aber nicht zu bestimmen. Sei also Gott und deinem Gewissen überlassen! Und nun? Warum sollt ich dich nicht lieben, wenn du sonst Liebe verdienst? Ich sagte vorher, wenn mein Sohn, dessen Tod ich beweine, bloß verirrt wäre und endlich wieder zu mir käme, würde ich ihm vergeben und ihn zu bessern suchen. So halte ich auch jeden verirrten Glaubensbruder ebenso gewiß, als ich wünsche, daß jeder Glaubensbruder, wenn ich mich verirre, gegen mich so handele. Auch dich, Freund, sehe ich als meinen Bruder an! Nicht dieser ganze Weltteil hat dich verstoßen; hier ist noch ein Ort, und er ist hoffentlich nicht der einzige, wo Einfalt der Sitten, Eintracht und Gastfreundschaft herrschen. Bleib bei mir, mein Bruder! Mein Haus ist das deinige, und meinen Bissen teile ich mit dir, solange ich selbst noch einen Bissen habe.«

Hiemit schloß er ihn in seine Arme, und Sebaldus, beschämt wegen seiner Übereilung, stumm vor freudigem Erstaunen, konnte nur durch Tränen antworten.

Der Prediger hielt redlich, was er versprochen hatte. Er nahm den Sebaldus in sein Haus auf und versah ihn mit den notwendigsten Erfordernissen. Sie hatten den freundschaftlichsten Umgang. Freilich konnte es nicht fehlen, daß nicht beide sehr bald über Erbsünde, Wiedergeburt[362] und Genugtuung zu disputieren anfingen, aber dies machte in den menschenfreundlichen Gesinnungen des Predigers keine Änderung, selbst alsdann noch nicht, wann Sebaldus Argumente vorbrachte, bei denen der gute Prediger einige Minuten stillschweigen und sich erst auf Gegenargumente besinnen mußte.

Auf diese Art gingen einige Wochen vorbei, bis ein Kaufmann aus Rotterdam, der eine Partei Güter auf dem gestrandeten Schiffe gehabt hatte, deshalb nach Egmont kam und sich bei dieser Gelegenheit einige Tage in Alkmar aufhielt, wo er den lutherischen Prediger, seinen alten Bekannten, besuchte. Er sah daselbst den Sebaldus, und nach näherer Erkundigung trug er diesem die Erziehung seines zweiten Sohnes unter vorteilhaften Bedingungen an. Sebaldus beurlaubte sich also bei seinem Wohltäter und reisete mit dem Kaufmanne nach Rotterdam.

Quelle:
Friedrich Nicolai: Leben und Meinungen des Herrn Sebaldus Nothanker, Berlin 1960, S. 355-363.
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