Zweiter Abschnitt

[363] Der Kaufmann hatte bereits in seinem Hause einen Hofmeister, der zur Erziehung seiner beiden Söhne gar wohl hätte hinlänglich sein können. Allein er hatte eine lutherische Frau, und in den Ehepakten war festgesetzt, daß das erste Kind reformiert und das zweite lutherisch erzogen werden sollte. Seine Frau, eine gutmütige Matrone, mit der er in allen Dingen, auch selbst in Absicht der zwischen ihnen verschiedenen Konfession in größter Eintracht lebte, würde mit dem einen Hofmeister, ob er gleich reformiert war, sehr wohl zufrieden gewesen sein, wenn nicht Domine Ter Breidelen, ihr lutherischer Gewissensrat, ihr die Nichterfüllung dieses Teils der Ehepakten so oft zu einer Gewissenssache gemacht und über diese Beeinträchtigung der reinen Lehre bei ihren[363] mitlutherischen Vettern und Muhmen so oft bittere Klagen geführt hätte, daß Frau Elsabe endlich anfangen mußte, ihrem Manne über diese Sache in den Ohren zu liegen. Dieser würde auch zu Befestigung des Hausfriedens sowie des Kirchenfriedens schon längst ihrem Verlangen ein Genüge getan haben. Bloß der Mangel eines dazu fähigen lutherischen Kandidaten war bisher daran hinderlich gewesen.

Es ward also der zweite Sohn des Kaufmanns dem Sebaldus übergeben, zu nicht geringem Mißvergnügen des reformierten Hofmeisters Meester Puistma, der den Knaben schon als sein Eigentum betrachtete und der es als ein Mißtrauen gegen einen so gelehrten Mann auslegte, daß man einem andern das Kind anvertrauen wollte, dessen Erziehung er schon angefangen hatte. Wahr ist es, er besaß ganz besondere Talente zu Erziehung der Jugend. Er war nicht umsonst fünf Jahre in Groningen und in Utrecht gewesen, um daselbst alle Worte der berühmtesten Hochlehrer nachzuschreiben und den reichsten Schatz holländischer Schulgelehrsamkeit und holländischer Rechtgläubigkeit einzusammeln. Er hatte alle Spitzfindigkeiten der Voetischen und Coccejanischen Theologie durchkrochen und wußte so genau, in wie mancherlei Sinne alle mögliche Theologanten in den sieben vereinigten Provinzen die Haushaltungen des göttlichen Gnadenbundes geordnet und verstanden hatten, daß er noch eine neue Haushaltung hätte erdenken können. Er konnte auf ein Haar bestimmen, ob Christus im Alten Testamente nur ein Bürge und Fidejussor für das menschliche Geschlecht gewesen oder noch etwas anderes. Dabei hatte Meester Puistma einen besondern Fleiß auf die gesegnete Lehre von der Prädestination gewendet und konnte trotz einem von Miltons philosophischen Teufeln über Vorherbestimmung[364] und freien Willen disputieren.61 Ja was noch mehr ist! Da nach Miltons Berichte selbst die Teufel sich aus dem Dispute über diese Materien nicht herausfinden könnten, schien dieser holländische Theologant einen höheren Scharfsinn zu besitzen; denn ihm standen so genau zusammengekettete Schlußfolgen zu Gebot, um den partikularsten Partikularismus zu behaupten, daß er sogar sich selbst der Verdammnis würde übergeben haben, wenn ihm hätte bewiesen werden können, daß er nicht prädestiniert wäre.

Diese theologantische Weisheit hatte Puistma denn auch unverzüglich bei seinen beiden Zöglingen an den Mann gebracht und sie bereits ziemlich tief in die Haushaltungen hineingeführt. Zugleich, da er sich erinnerte, daß diese Knaben einst Bürger eines Freistaates werden sollten, war er bemüht, ihnen die nützlichsten Stücke der vaterländischen Geschichte zu erklären. Dahin gehörte besonders die Geschichte des Synods zu Dordrecht mit seinen politischen und theologischen Veranlassungen und wie wohl man getan, die Remonstranten lieber nicht zu hören, damit man sie desto gemächlicher verdammen konnte, desgleichen die Vorfälle mit der sogenannten Loevesteinschen Partie nebst der löblichen Hinrichtung des unruhigen Oldenbarnevelt und so weiter. Als er aber einst wahrnahm, daß die Knaben, indem er pathetischerweise beklagte, daß das Schloß Loevestein nicht jetzt noch zum Gefängnisse für die[365] widerspenstigen Unrechtsinnigen gebraucht würde, indes unter dem Tische mit Keulchen und papiernen Vögeln spielten, so ward er dadurch nicht wenig entrüstet und erklärte, nach dem Beispiele erfahrner Pädagogen, welche unartigen Knaben die Leckerbissen versagen, ihnen das köstliche Fest dieser Erzählungen künftig so lange zu entziehen, bis sie selbst hungrig darnach würden.

Daher bestand zu der Zeit, als Sebaldus ins Haus kam, der Unterricht der beiden Knaben bloß darin, daß sie täglich aus dem Heidelbergischen Katechismus ein Pensum der Abteilung von des Menschen Elende auswendig lernen und hersagen, dabei täglich ein Kapitel aus Bezas lateinischer Übersetzung des Neuen Testaments exponieren mußten und von einem besondern Lehrmeister in den fünf Spezien der Rechenkunst unterrichtet wurden, weil, wie leicht zu erachten, ein so gelehrter Mann wie Meester Puistma sich mit so gemeinen Dingen nicht abgeben konnte.

Sebaldus verfuhr bei seinem Zöglinge auf eine andere Art. Er lehrte ihn nebst dem Katechismus, der lateinischen und hochdeutschen Sprache und dem Schönschreiben noch die Geschichte und die Erdbeschreibung. Dieses gefiel den Eltern, obgleich der gelehrte Puistma über die unnützen Dinge seine Verachtung bezeugte. Als aber Sebaldus sich freiwillig erbot, beide Knaben das Rechnen und die Musik zu lehren, fing Meester Puistma darüber Feuer, lief zu dem reformierten Domine Dwanghuysen und klagte, daß man den ältesten Knaben lutherisch zu machen suche, indem ihm der lutherische Informator Stunden geben solle. Domine Dwanghuysen war mit dieser Neuerung freilich nicht zufrieden; weil indes der Kaufmann gedeputeerde Ouderling oder Kirchenvorsteher war, so wollte er ihn in etwas[366] schonen und sprach noch vorjetzt den eifrigen Puistma zufrieden.

Noch schlimmer ward es, als Sebaldus anfing, seinen Zögling im Griechischen zu unterweisen, und der Kaufmann seinem ältesten Sohne, aus dem er einen gelehrten Mann machen wollte, befahl, diesen Lehrstunden beizuwohnen. Sebaldus ließ darin Xenophons »Denkwürdigkeiten des Sokrates« lesen und übersetzen und erklärte auch einige Stellen aus Antonins »Betrachtungen«. Er nahm hierbei Gelegenheit, den Knaben gute moralische Grundsätze einzuprägen und sie ihnen durch Erklärung dieser vortrefflichen Bücher anschaulich zu machen. Allein hierüber setzte Puistma, in Gegenwart beider Eltern, den neuen Lehrer aufs heftigste zur Rede. Er sagte sonder Scheu: wenn Sebaldus ein rechter Christ wäre, so würde er den Kindern nichts als die gewyde Bladeren62 und andere christliche Bücher vorlegen, ihnen aber nicht solche ungeweihte blinde Heiden wie Sokrates und Antonin zu Beispielen vorstellen, deren Tugend schon der heilige Augustin als blendende Laster verdammt habe. Sebaldus verteidigte sich; aber was konnte vernünftige Verteidigung bei einem Manne wie Puistma helfen? Dieser schrie, ohne Gründe anzuhören, und lief voll Wut abermals zu Domine Dwanghuysen, ihm diese neue Ketzerei zu berichten.

Menschliche Tugenden, besonders die Tugenden der Heiden standen zu der Zeit in Rotterdam eben nicht im besten Rufe. Zwar hatte Domine Hofstede damals noch nicht die Laster der berühmten Heiden angezeigt, zum Beweise, wie unbedachtsam man dieselben seliggepriesen.63 Es ist aber leicht zu erachten, daß die unsinnige[367] Behauptung, die größten Männer des Altertums wären, ohne Ausnahme, lasterhaft gewesen, nicht auf einmal in eines Menschen Gehirn kommen kann, ohne daß vorbereitende Torheiten anderer Leute vorhergegangen sind. Wirklich war schon seit geraumer Zeit in Friesland und durch das ganze Südholland die Meinung gänge und gäbe gewesen, das menschliche Geschlecht sei von Natur elend, dumm und zum Guten unfähig. Wenn jemand auf irgendeine Art das Gegenteil behaupten, besonders wenn er sich etwa auf die guten Handlungen der Heiden berufen wollte, so war es sehr gewöhnlich, von Arminianischer Ansteckung, Pelagianischem Sauerteige und Socinianischem Gifte zu reden, auch wohl zu schreiben. Domine Dwanghuysen war nicht der Geringste unter den rechtsinnigen Verdammern der Heiden; also begreift man leicht, in welche Bewegung ihn Meester Puistmas Klage gesetzt haben mag.

Er ging unverzüglich zum Kaufmanne, und in dessen Gegenwart fuhr er den Sebaldus heftig an: wie er der Jugend heidnische Schriften in die Hände geben könne, um ihr daraus Beispiele der heidnischen, sündlichen Tugend zur Nachahmung vorzustellen? Er entschied, daß weder Xenophon noch Sokrates, noch Antonin prädestiniert gewesen, daß sie wegen ihrer bloß scheinbaren Tugenden kein Gegenstand der göttlichen Barmherzigkeit sein könnten und also in dem höllischen Schwefelpfuhle ewig braten müßten. Sebaldus unternahm es unbedachtsamerweise, jene große Männer wider dies harte Verdammungsurteil zu verteidigen, machte aber dadurch das Übel viel ärger; denn Dwanghuysen ward sehr heftig ergrimmt, daß man gegen ihn als einen Seelenhirten ohne Scheu solche seelenverderbliche Meinungen behaupten wolle, und schrie, indem er aus dem Zimmer schritt, dem Kaufmanne zu, einen solchen heidnischen[368] Unchristen nicht einen Augenblick unter seinem Dache ferner zu dulden, weil er sonst für nichts stehen könne, wenn der seinen Hirten liebende Pöbel, sobald er ein solches Anathema Maran Atha64 verspüre, Unheil anfangen sollte.

Der Kaufmann, der Frieden haben wollte und wohl wußte, mit welcher Heftigkeit Domine Dwanghuysen das durchzusetzen pflegte, was er einmal beschlossen hatte, wäre sehr geneigt gewesen, von Sebaldus zu scheiden. Aber seine Frau nahm ihren Hofmeister in Schutz und wollte ihn eher nicht wegschaffen, bis auch ihr lutherischer Gewissensrat sein Gutachten darüber gegeben hätte.

61

Others apart sat on a hill retir'd

In thoughts more elevate, and reason'd high

Of providence, foreknowledge, will, and fate,

Fix'd fate, free will, foreknowledge absolute,

And found no end, in wandring mazes lost.

Milton's »Paradise lost«, Buch II, Vers 557.

62

Geweihte Blätter, d.h. die Bibel.

63

Dieses Buch ist ins Deutsche übersetzt. Leipzig 1769, Oktav.

64

I. Kor., XVI., 22. – In dem Streite über die Seligkeit der Heiden, welcher damals in Holland sehr hitzig geführt ward, drohte der eifrige Domine Hofstede und sein Anhang sehr oft denen, welche es möglich hielten, daß tugendhafte Heiden selig würden, mit dem Jan Hagel oder Pöbel, der, wie sie sagten, seine Hirten, d.h. Domine Hofstede und Konsorten, sehr liebe.

Quelle:
Friedrich Nicolai: Leben und Meinungen des Herrn Sebaldus Nothanker, Berlin 1960, S. 363-369.
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