Vorwort

Wer sich umschaut im deutschen Reich, im Leben überhaupt, im Frauenleben besonders und sich erinnert, wie es darin aussah vor zehn, zwanzig, dreißig Jahren und nun gar vor einem halben Jahrhundert – wie es aussah im Hause und im Staate, in Handel und Wandel, in Wirthschaft und Industrie – der wird sich sagen müssen, daß da so gewaltige Umwandlungen vor sich gegangen sind, wie sie vielleicht noch in keiner andern Zeit in eine so kurze Spanne derselben sich zusammendrängten.

Natürlich mußten diese Veränderungen auch auf das Frauenleben ihren Einfluß üben und so wäre es nothwendig gewesen, sich bei all dem, was durch neue Entwickelungen und Erfindungen, durch die Fortschritte in Industrie, Kunst und Wissenschaft, durch sociale und staatliche Neuerungen der Allgemeinheit zu Gute kam, auch Rechenschaft abgelegt hätte: welchen Einfluß dies Alles auch auf die Lebensstellung der Frauen habe und haben müsse?[3]

Indeß ist dies, einzelne Anläufe dazu abgerechnet, eigentlich erst in den letzten Jahrzehent geschehen. Erst seitdem hat man in größeren Kreisen angefangen, auch über diese Frage nachzudenken, Erörterungen auf Grund der geänderten Lebensverhältnisse anzustellen und sie als Frauenfrage mit auf die Tagesordnung zu setzen.

Es geschah dies von Männern und Frauen – die letztern erwachten und die erstern überlegten – damit allein schon war Vieles gewonnen. Es ist seitdem eine ganze Literatur entstanden zu Für und Wider – eine ganze, große Bewegung der Niemand mehr ein »Halt!« zurufen kann mit der Hoffnung auf Erfolg – sie geht eben ihren Gang weiter, wie Alles weiter geht zum Ziele, was den Keim der Entwicklung in sich trägt.

Wenn unsere Zeit sich rühmen darf, auf der Bahn des Fortschrittes mit Locomotiveneile weiter zu kommen und was heute noch als unmöglich galt schon morgen möglich gemacht zu haben, wenn, was vor Jahren noch ein kühnes Wagniß war, nun etwas Alltägliches geworden, das nicht einmal mehr Aufsehen erregt: so ist es ja gar nicht anders möglich, als daß dies auch dem Frauenleben zu Gute kommen muß. Wie wenig und doch auch wieder wie sehr dies bereits geschehen im letztem Jahrzehent,[4] wissen namentlich alle diejenigen, welche diese Bewegung mit Interesse verfolgen, und wir sind uns bewußt, ein Hilfsmittel dazu in der von uns seit elf Jahren herausgegebenen Zeitschrift: »Neue Bahnen«, Organ des Allgemeinen deutschen Frauenvereins, geboten zu haben und noch zu bieten. Hier wollen wir nicht wiederholen, was wir dort allseitig im Verein mit Andern berichtet, beleuchtet und erörtert.

Hier wollen wir nur an das erinnern, was wir in diesen Beziehungen seit einem halben Jahrhundert selbst erfahren und erlebt.

Aus einzelnen Bildern, die wir da herausgreifen, wird auch die jüngere Generation sich eine Vorstellung machen können, wie es im deutschen Vaterlande aussah, als eben erst die Webstühle das Spinnrad verdrängten, aber noch keine Nähmaschinen der Handarbeit Concurrenz machten, als das Handwerk und die Industrie noch nicht auf der Stufe waren, die weibliche Hausarbeit auf allen Gebieten zu überflügeln, als es noch keine Zündhölzchen gab und kein Gas, keine Eisenbahnen und Telegraphen, als das Meiste von dem, was wir heute in unsern Wirthschaften noch nicht einmal Luxus, sondern nur Bedürfniß nennen, noch gar nicht oder nur in sehr unvollkommnem Grade, in unbequemer Weise oder nur[5] für die Paläste der Vornehmen vorhanden war; als es noch viele Frauen im Volke gab, die nicht schreiben und nur Gedrucktes oder gar nichts lesen konnten, – und Damen, bei denen man es noch liebenswürdig fand, wenn sie nicht orthographisch schrieben – als die Lernzeit der Mädchen durch die Confirmation im Alter von vierzehn Jahren beendet ward und auch die ältesten Frauen vor Gericht gleich den Kindern eines Vormundes bedurften, und wo es schon ein Wagniß war, wenn eine Frau unter ihrem eignen Namen zur Feder griff.

Erst wenn wir uns wieder recht lebhaft erinnern oder es erfahren, wie es in den vergangenen Jahrzehnten aussah, welche Anforderungen man damals an die Frauen stellte, oder auch nicht stellte und zu Beiden so ziemlich durch die Gestaltung des ganzen Lebens berechtigt war – erst dann vermögen wir nicht allein einzusehen, welche Fortschritte darin die Gegenwart gemacht, als auch zu beurtheilen, welche Forderungen jetzt eben auch unter den ganz geänderten Lebensverhältnissen, wie wir sie schon andeuteten, an die Frauen der Gegenwart wie der Zukunft zu stellen sind und welche von ihnen selbst gestellt werden müssen, wollen sie anders in Einklang sich fühlen mit ihrer Zeit und mit der Stufe der[6] Entwickelung, welche die Menschheit bereits erreicht hat.

In meinen früheren Schriften: »Das Recht der Frauen auf Erwerb« (1866) und in der Genius-Triologie, »der Genius des Hauses« (1868) »der Menschheit« (1869) »der Natur« (1871) habe ich bereits versucht, einer zeitgemäßen Gestaltung des Frauenlebens das Wort zu reden, ich werde hier nicht wiederholen, was ich dort schon gesagt, aber ich denke diese Bücher zu ergänzen durch die vorliegende Schrift – die mehr von der Vergangenheit und Zukunft sprechen soll als von der Gegenwart, die ja vor allen Blicken offen daliegt und die eben in unsrer obenerwähnten Zeitschrift ihr Spiegelbild und ihr Sprachrohr findet.

Erst wenige Jahre sind verflossen, seit sich in unserm deutschem Vaterlande die große Umwandlung vollzog, welche uns erlaubt, wieder von einem deutschen Reich zu sprechen, uns zu fühlen als Töchter eines einigen großen Vaterlandes. Mehr als je vorher beansprucht seitdem die deutsche Nation auf der Culturhöhe ihrer Zeit zu stehen, mehr als je vorher im stolzen Selbstbewußtsein errungener Größe und Macht auch die Anerkennung anderer Nationen zu finden. Da ist es denn doch wohl an der Zeit, daß auch die deutschen[7] Frauen mit theilhaftig werden der Vortheile, die nun durch die Einheit des deutschen Neichs und seine Machtstellung dem deutschen Volke geboten sind, daß sie selbst trachten nach neuer, größerer Bethätigung deutscher Frauenwürde und daß auch bei ihnen nachgeholt werde, was vergangene Zeiten versäumten und was erschwert ward durch die frühere Zerrissenheit des deutschen Reiches, durch die Beschränktheit des öffentlichen Lebens und durch die damalige Nothwendigkeit, in erster Linie eben nach der Erringung deutscher Einheit und Freiheit zu streben, und erst wenn diese gewonnen, für andere sociale Reformen auch den Boden zu gewinnen und zugleich Zeit und Kraft, ihn zu bebauen.

Mögen die verschiedenen Bilder und Schilderungen von Zuständen, die wir zum größten Theil aus eigner Erfahrung kennen lernten, denn jetzt an uns vorüberziehen und ganz durch sich selbst den Lesern klar machen, welche Veränderungen im Culturleben der letzten funfzig Jahre vor sich gegangen, insbesondere im Frauenleben – woraus dann wieder ganz von selbst resultiren wird, welche andere noch vor sich zu gehen haben. Wir wollen nicht belehren, nicht klagen noch anklagen, wir wollen nur einfach schildern und anregen. Wir hoffen wahr und gerecht zu sein und »der guten alten Zeit« in[8] keiner Weise zu nahe zu treten, wir schreiben keine Satyre, aber wir heißen den Humor willkommen, wo er gleichsam von selbst sich einstellt – denn wir besitzen eben genug Freiheit des Geistes, um seines Einflusses uns zu freuen, im Leben wie in der Culturgeschichte und um zu wissen, daß durch ihn oft mehr verdeutlicht und erreicht wird, als durch alle sonstigen Mittel die Welt zu überzeugen und zu überwinden!

Ja, wenn es uns gelingen wird, vergangene Zustände getreu zu beleuchten, so wird uns neben vielen Kleinlichen und Peinlichen auch so viel Großes und Schönes im damaligen deutschen Frauenleben begegnen, daß wir vielleicht manchmal seufzen möchten: wo ist all diese Tiefe, dieses rege Interesse, diese Hingabe, diese Begeisterung, diese Aufopferungsfähigkeit, diese Selbstlosigkeit denn hingekommen in unsrer nüchternen, realistischen Zeit? Ist nicht das, was wir gewonnen haben durch alle Fortschritte der Cultur gering anzuschlagen gegen das, was wir eingebüßt?

Wir werden am Schluß auch auf diese Fragen die Antwort nicht schuldig bleiben – aber wir hoffen, auch die Zukunft bleibt sie uns nicht schuldig, selbst wenn die Gegenwart sich nur erst mit einem Achselzucken darüber hinwegsetzen sollte.[9]

Wir dienen der Zukunft noch heute, wie wir ihr von je gedient, wir glauben an sie, wie wir von je an sie geglaubt – und sind dazu berechtigt durch unsere Erfahrungen, die uns daran mahnen, wie in vielen Stücken diesem Glauben schon Erfüllung geworden und aus dem, was einst Prophetie war, Erkennung der Wirklichkeit geworden ist.

Wir überlassen uns diesem Glauben an das ideale Moment im Wesen der deutschen Frau, das immer wieder durchbrechen wird, wie es auch immer wieder durchbricht im Leben des deutschen Volkes, diesem Siege des Ideals, dem die Zukunft gehört, auch die Zukunft der deutschen Frau.

Aber wir warten nicht müssig bis dieser Sieg einst komme, wir freuen uns mit für ihn zu kämpfen, damit er bald komme auch im neuen deutschen Neich und widmen auch diese Schrift, wie unser ganzes Leben, diesem Kampfe.

Leipzig, im Mai 1876.

Die Verfasserin.[10]

Quelle:
Louise Otto: Frauenleben im Deutschen Reich: Erinnerungen aus der Vergangenheit mit Hinweis auf Gegenwart und Zukunft, Leipzig 1876.
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