II. Die Brüder

[20] »Ich bin gewandert, hab' gesehen,

Es steigt empor ein böses Zeichen,

Ein Kampf liegt in den ersten Wehen,

Ein Kampf der Armen und der Reichen.«

Alfred Meißner.


Der Geheimrath von Bordenbrücken hatte seine Mission vollkommen erfüllt. Gewiß hatte er den Orden, um den er sich bewarb, schon jetzt verdient. Wenigstens hatte er sich alle mögliche Mühe darum gegeben und kein Mittel gescheut, zu irgend einem Resultat zu gelangen, durch das er sich den Dank seiner Regierung verdiene. Um jeden Preis wollte er Entdeckungen von der größten Wichtigkeit über staatsgefährliche Verbindungen und Umtriebe machen. Wo er nur einen Keim dazu fand, wollte er daraus wo möglich eine Giftpflanze erziehen und sie dann frohlockend ausreißen.

So hatte der Geheimrath auch den unheimlichen Funken in die Seele des Fabrikherrn geworfen – war er dort einmal eingedrungen, so werde es ihm, daß wußte er, an weiterem Brennmaterial und Zündstoff nicht fehlen.[20]

Der Geheimrath war ein geschickter Rechenmeister, sein Exempel traf bei der Probe.

Herr Felchner hatte Tag und Nacht keine Ruhe mehr. Er theilte seine Unterredung mit dem Geheimrath seinem Sohn mit. Georg war von Charakter fast noch finsterer und hartherziger als sein Vater. Herr Felchner, der Vater, war ein Thrann gegen Alle, die von ihm abhingen, aber er war es um eines Zweckes willen: er war es aus Ehrgeiz, der reichste und industriellste Mann in seinem Vaterland zu sein. Alles, was er war und besaß, hatte er seiner Klugheit, seinem Fleiß und seiner Ausdauer zu verdanken, denn er hatte zuerst mit einem geringen Geschäft und klein angefangen. Darauf war er stolz und auf diesem sichern Fundament baute er nun mit rastlosem, unermüdlichem Eifer weiter. Es war seine Freude, wenn er durch seine Geldmacht den Adel demüthigen konnte, es war sein Stolz, bei dem großen Grundbesitz, den er sich nach und nach erworben, bei der Masse der Leute, welche er beschäftigte und welche dadurch Alle von ihm abhängig waren, selbst eine Art von Souverain vorzustellen, es war sein Ruhm, die Industrie durch alle zweckmäßige Neuerungen zu bereichern und sie in seinen Fabriken und durch dieselben auf eine immer höhere Stufe zu heben – und es war so seine Lebensaufgabe, in Allen diesem noch weiter zu schreiten –: das Mittel dazu war erhöhter Reichthum:[21] Sich diesen zu verschaffen, war ihm kein Mittel zu gering, zu kleinlich und schimpflich – so bald sich dies Alles nur unter einem Schein des Rechtes verbergen ließ. So lag seinem Handeln immer noch eine Idee, ein Zweck zum Grunde, und so war er nicht hart und grausam, weil er es unter allen Verhältnissen gewesen sein würde, sondern er war es nur unter den gegebenen, er glaubte so sein zu müssen, wenn er den Platz ganz ausfüllen wollte, auf den er sich gestellt, den er für sich gehörig in Anspruch genommen.

Aber anders war es mit Georg. Er war Nichts als eine todte Maschine. Er hatte nicht einmal einen Ueberblick über den weiten Geschäftskreis seines Vaters – er stand still auf dem Platz, auf welchen ihn dieser gestellt. Er war einer jener Zahlenmenschen, welche ihr Leben lang niemals gedacht, sondern immer nur gerechnet haben. Aber darüber waren alle edleren Regungen seines Herzens erstorben. Der Grundzug seines Characters war böse Härte geworden. Glückliche und heitere Gesichter waren ihm förmlich unerträglich – sobald er solchen begegnen mußte, ward er noch mürrischer als gewöhnlich; – daß es so kam, war der Neid seines Herzens, weil er selbst für Freude und Glück ganz unempfindlich geworden war; aber er war dies auch für Schmerz und Trauer. In ihm war immer nur eine Empfindung lebendig: der Aerger und seine Aeußerungen[22] bestanden in Härte und Grausamkeit. So ärgerte er sich stets über die Fabrikarbeiter, und weil er sich über sie ärgerte, haßte er sie, und weil er sie haßte, mißtraute er ihnen, und weil er ihnen mißtraute, behandelte er sie mit der ausgesuchtesten Strenge.

Es war natürlich, daß er jetzt, als ihm sein Vater die Warnungen des Geheimrathes mittheilte – dieselben begierig in sich aufnahm, das Mißtrauen des Vaters vergrößern half und zu verstärkter Strenge gegen die Arbeiter rieth.

Und so kam es, daß am nächsten Lohntag jedem der ledigen Arbeiter angekündigt ward, daß man ihm am nächsten Lohntag ein paar Groschen von seinem Lohn abziehen werde, dafern er wieder in den Arbeiterverein in die Schänke gehe, hinter dessen gefährliche und aufrührerische Zwecke man endlich gekommen sei. Man wolle keine weiteren Nachforschungen anstellen, aber Jeder möge sich hüten, wieder Aehnliches zu versuchen – und der Verein sei jetzt ein für alle Mal unwiderruflich aufgelöst.

Der Eindruck, welchen diese Maaßregel auf Alle, welche sie betraf, machte, war ein sehr verschiedener.

»Das leiden wir nicht! Wir sind freie Arbeiter! Wir sind keine Sclaven, keine Bedienten! – Man darf uns keine solchen Vorschriften machen! – Wir wollen doch sehen, wer dazu ein Recht hat!«[23]

So redeten die Arbeiter unter einander hin und her im ernsten lauten Zorn.

Nachher klang es anders – da kamen all' die Aber hinterdrein, gar viel und mannichfaltig – all' die Aber der armen Leute.

Da hieß es nun wohl so:

»Aber was wollen wir thun? – Wie wollen wir's anfangen uns zu widersetzen? Leicht zwar ist's gethan, zusammenzukommen wie gewöhnlich; aber dann, dann kommt der Lohntag, dem wir jedes Mal so sehnsüchtig entgegen harren – kommt der Lohntag und kein Lohn! Denn wird unser Lohn noch mehr geschmälert, so müssen wir verhungern und elend zu Grunde gehen. – Wollen wir klagen vor Gericht? – Die Gerichtsklagen sind theuer und den armen Leuten helfen sie nicht! – Wer die Macht hat, hat das Recht! –«

So sprachen die Arbeiter hin und her und sahen traurig und nachdenklich vor sich nieder.

Anton hatte seine Ohren überall.

Wilhelm hörte mit innrer Freude all' das Murren der Zornigen, sah vergnügt all' die große Bestürzung. Nun werden sie es wohl einsehen,« sagte er für sich, »nun werden sie's nicht mehr lange tragen!« Aber laut und zu den Andern sprach er nur:

»Da seht Ihr es! Wir sind freie Arbeiter, wir können[24] die Freiheit haben zu verhungern – wir sind keine Sclaven – unser Herr kann uns fortjagen, wenn wir ihm nicht zu Willen sind – aber so ist es einmal, dem Reichen gehört die Welt – bis sich einmal das Ding umkehren und der Reiche der Welt gehören wird.« Zu Franz sagte er dann halblaut: »Was meinst Du nun, Bruder? Was Du mühsam Jahre lang ringend aufgebaut, um Deine Kameraden für Menschenwürde zu erziehen, um sie zu sittlicher Erstarkung zu führen, um sie vor der äußersten Noth zu bewahren – das sinkt nun Alles in Nichts zusammen vor dem Machtwort des reichen Thrannen. Was meinst Du nun? Glaubst Du nun, daß es für uns besser werden könne, so lange wir die Sclaven der Reichen bleiben, so lange wir vor jeder Selbsthülfe feig zurückschaudern?«

»Laß' mich jetzt, Wilhelm!« bat Franz mit wehmüthiger Stimme, »laß' mich, bis ich mit mir selbst zu Rathe gegangen; zu unerwartet kam der Schlag.«

Wilhelm lachte höhnisch.

Nach dem Feierabend ging Franz auf der Straße nach Hohenheim. So entmuthigt, so niedergeschlagen wie jetzt, war er noch niemals gewesen. Wie ein Schlag aus blauem Himmel war ihm diese neue unerhörte Strenge des Fabrikherrn gekommen. Er hatte ja von Anfang an Nichts gegen den Verein gehabt, als ihn Franz zuerst davon benachrichtigt[25] und sogar um seine Zustimmung gebeten hatte. Woher nun dieses plötzliche Mißtrauen gegen eine Sache, welche man nie mit dem Schleier irgend eines Geheimnisses umhüllt gehabt hatte? Woher diese plötzliche Härte?

Franz sann lange darüber nach, doch immer vergebens. Und je weniger er einen Grund herausfand, welcher diese außerordentliche und unerwartete Maasregel des Fabrikherrn hätte rechtfertigen können, desto trüber und unheimlicher ward ihm zu Muthe – eine ungeheure Angst vor kommenden Dingen begann sich wie ein drückender Alp auf seine Seele zu lagern. Diese Ankündigung, die ihm und allen Arbeitern heute geworden, – war sie nicht der Vorbote nahenden großen Unheils? Glich sie nicht dem ersten schmetternden Blitz, dem ersten rasch abbrechenden Donnerschlag, die ohne die Gewitterschwüle der Luft durch lindernde Regentropfen zu kühlen aus finsterm Gewölk hervorbrechen? Und dann ist es wieder still, todtenstill und keine Bewegung am Horizont. Nur daß die schwarzen Wolken immer größer wachsen, immer höher sich aufthürmen, ohne doch sichtlich weiter von ihrer Stelle zu rücken, ihre dunkeln Massen mit schneehellen Spitzen schmücken, mit rothschillernden Streifen durchziehen – so daß der Beobachter des Wetters wohl sieht: das ist mehr als ein Gewitter, das mit vorübergehenden Schrecken der Erde Segen bringt – das verkündet schlimmen Hagel, das wird sich nicht[26] eher entladen, als im gräßlichen Wolkenbruch. Auf die todesängstliche stille Erde, die unter dieser drohenden schwarzen Last sich nicht zu rühren wagt, wird plötzlich das Entsetzen hereinbrechen – und sie wird ohnmächtig aufschreien unter den fürchterlichen Kampf der Elemente, aber unhaltbar werden die großen Hagelkörner herunterstürzen und die Bäume zerbrechen, die nicht geduldig sich beugen wollen, die junge Saat zerstampfen, die hilflos dasteht, und unter allen Früchten ringsum eine furchtbare Ernte halten vor der Zeit. Und tosende Wasserschlünde wird der Himmel öffnen, die werden zusammenströmen mit den Wassern auf der Erde und sie aus ihren friedlichen Betten aufjagen, heraushetzen auf blumige Wiesen und Felder und über sie hinweg bis hinein in die schutzlosen Häuser armer Menschen. Und dann, wenn das Werk der Zerstörung vollendet sein wird, dann wird von droben ein ruhiger blauer Himmel herniederlachen auf all' den Jammer unten, und kleine Silberwölkchen werden im spielenden Tanz erzählen: das Unwetter sei nun vorbei und komme nicht wieder, es herrsche nun wieder lauter Klarheit und Ruhe. Als ob nun Alles gut sei! Als ob es Nichts sei, eine zertrümmerte Ernte! Als ob die vernichteten Hoffnungen von Tausenden Nichts wären!

So zog es durch Franzens Seele. So hatte er das bestimmte Vorgefühl wie vor solch' gräßlichem Gewitter.[27] So legte es sich wie ein drückender Alp auf seine Brust. Da drinnen fühlte er es bestimmt: so werde es kommen.

Wer so die niedern Arbeiter tagtäglich freiwillig und friedlich sieht an ihre einförmigen und schweren Geschäfte gehen, der ahnt wohl nicht, welch' ungeheuere Kämpfe oft mögen ausgekämpft werden in diesen stummen Herzen, die hinter einem groben grauen Hemd und unter einer zerrissenen Jacke schlagen. – Und wenn auch öfter noch vielleicht diese Herzen kein Verlangen haben, weil der hungernde Magen daneben eine beredtere Sprache als sie gelernt hat, wenn auch all' diese Sinne durch frühe Gewöhnung thierisch abgestumpft sind und nur aus Gewohnheit ein lästiges Leben fortführen, ohne ein anderes zu begehren, weil ihnen von ihrer Geburt an vorgesagt worden ist: das sei ihr Loos – und sie für sich niemals ein anderes erstreb'bar hielten: ach, so trifft doch doppelte Qual diejenigen, welche aus ihrer dumpfen Lebensnacht aufgewacht sind und sich doch ausgeschlossen sehen von All' dem, was man eigentlich Leben nennt. Dann beginnt jenes Ringen des innern Menschen wider das Loos, zu dem der äußere Mensch durch seine Geburt verdammt ist. Und wer nun frommer Sieger bleibt in solchen Kämpfen, vielleicht der härtesten von allen, welche den Menschen beschieden sind, dessen wartet dafür kein Wort der Anerkennung, kein[28] Hauch der Bewunderung, kein leuchtendes Ziel und kein ehrender Kranz – kaum daß von ihm die Welt sagt: er thut seine Pflicht; sie sagt entweder: es ist so seine Bestimmung, was kann er Anderes wollen? Oder sie spricht gar nicht von ihm – denn von dumpfen Maschinen, die man sich nur zu einem bestimmten Gebrauch hält, pflegt man nicht zu sprechen.

Wer mogte diese Kämpfe ahnen, in welchen Franz täglich mit sich selber rang? Wer diese Versuchungen, welche gleich der lernäischen Hydra, wenn er sich Sieger wähnte, ihm immer wieder ein neues Haupt züngelnd und gifthauchend entgegenbäumten?

Und jetzt rang er wieder.

Er hatte sich jenseit des Grabens der Straße, auf welcher er ging, unter einen Baum geworfen und starrte, die Hände krampfhaft vor seine Brust gedrückt, vor sich nieder. Zwei große schwere Thränen rannen ungehemmt über seine bleichen Wangen.

»Da ist er ja!« rief plötzlich eine Stimme und ein Mann sprang rasch über den Straßengraben hinweg und stand vor Franz.

Der Wandrer glich ihm – und doch auch wieder nicht. Er war größer als Franz, seine Haare waren von lichterem Braun, seine Augen hatten einen sanfteren und milderen Glanz. Der Schnitt der Gesichter war gleich wie[29] ihre Blässe und in den Furchen Beider las man große geistige Kämpfe verzeichnet. Aber während man es Franz ansah, daß eben jetzt diese Kämpfe am Heftigsten tobten, schienen sie bei dem Andern überwunden und der Ausdruck eines ruhigen Schmerzes lagerte auf seinem Antlitz, welches beinah etwas Heiliges und Verklärtes hatte. – Einem fremden Beobachter wäre vielleicht noch aufgefallen, daß diese Beiden, die sich bis auf den Unterschied der Jahre, denn Franz mogte um zehn Jahre weniger zählen als Jener, so ähnlich sahen, in ihrer Kleidung um so unähnlicher erschienen. Denn während Franz Beinkleider von grobem Tuch, eine geflickte und zerknitterte Leinwandblouse und einen alten rothen Shawl um den Hals unter den groben Hemdkragen geschlungen trug, erschien jener in dem feinen, modernen und netten Anzug eines Mannes von Welt.

Aber die Bruderherzen schlugen in gleicher Liebe zu einander, gleichviel ob unter feinen Stoffen, ob unter Lumpen.

»Franz!«

»Gustav!«

So riefen sie sich gleichzeitig einander zu. Und sie schüttelten einander die Hände und sahen sich an mit allen Freudenzeichen des Wiedersehens.

»Du bist schneller wieder zurückgekommen, als ich dachte,« sagte Franz.[30]

»Waldow bekam auf einmal das Heimweh und ward kränklich. Befragte Aerzte riethen zur Heimkehr; Golzenau trieb auf einmal auch dazu an – und so reisten wir Alle hierher zurück, da Waldows Heimath unserm Wege näher lag, als Golzenau. Ich begleite Eduin nach einigen Tagen, welche wir hier zubringen, zu den Seinigen. Er will sich durchaus nicht von mir trennen, wahrscheinlich treten wir dann nach ein paar Wochen des Weilens im Vaterland eine neue Reise nach Norden an, da er den Süden so bereitwillig aufgab. – Aber Franz, Du weintest, wie ich Dich zuerst sah?« sagte Gustav Thalheim.

»Weint' ich? – Nun es kann wohl sein – wundern muß man sich freilich, wie man noch weinen kann! Ach, es ist gut, daß Du da bist – ich muß Viel mit Dir reden, vielleicht weißt Du Rath, wo ich rathlos bin! – Aber nicht hier – um diese Fabrik herum muß jetzt die Luft verpestet sein, muß einen neuen Wellengang erfunden haben für den Schall, daß er gleich bis in die Ohren des Fabrikherrn trägt, was man spricht, aber verändert, verschlimmert – auch weht der Herbstwind schon rauh über die Stoppeln – Du wirst frieren, weil Du aus Süden kommst. – Aber wo gehen wir hin – in meiner Kammer ist's vielleicht auch nicht mehr geheuer – wer kann's denn wissen?«

»Komm mit mir,« antwortete der Doctor Thalheim,[31] »ich bewohne bei Waldow eine einsame Stube, dort wird uns Niemand belauschen, wenn Du Etwas zu fürchten hast, dort können wir uns einander näher erklären, denn noch verstehe ich Dich nicht.«

So gingen sie denn zusammen dem Gute des Rittmeisters von Waldow zu.

Unterwegs fragte der Doctor Franz, ob er Etwas von Amalien wisse.

Franz verneinte. Er wußte es selbst noch nicht einmal, daß das Kind gestorben war – weder Amalie noch Bernhard hatten ihm geschrieben.

Von diesen traurigen Verhältnissen sprachen sie zusammen, bis sie an das Ziel ihrer Wanderung kamen. Gustav führte den Bruder in seine Stube:

Hier sind wir ungestört,« sagte er und zog ihn neben sich auf das Sopha.

Die Stube war zwar etwas altmodisch eingerichtet, Gardinen und Meubles waren von ziemlich verblichener Pracht – aber es war doch immer einst Pracht gewesen und die eingedruckten Polster gaben noch immer weich und elastisch genug nach, um in ihrer Bequemlichkeit einem Proletarier ziemlich wunderlich vorzukommen. Er schüttelte den Kopf darüber wie über all' die zierlichen, künstlichen Geräthe des Zimmers. Es mischte sich kein Neid und keine Bitterkeit in seine Worte, als er zu dem Bruder sagte:[32] »Du gehörst jetzt zu der Classe der Reichen und vornehmen Leute –« denn er gönnte ihm das Alles; aber er sagte es doch.

»Bruder,« sagte Jener, »ich weiß wohl, daß Du unglücklich bist – aber noch, als ich vor Jahresfrist hier von Dir Abschied nahm, versichertest Du mir: Zuweilen habest Du doch Stunden, wo die Arbeit Deine Lust sei, Du strebtest nicht über Dein Loos hinaus – und drück' es Dich auch ein Mal hart, nun so erhebe Dich doch der Gedanke, daß Du all' Dein Streben Deinen Kameraden weihtest und daß es Dich erhöbe, danach zu trachten, soviel, als Dir möglich sei, zur Verbesserung der Lage der arbeitenden Classen beizutragen. – Denkst Du nun anders?«

»Du hältst mir ein Bild meines Selbst vor, wie es einst war und wie es bald ganz zertrümmert sein wird Ja! Ich bildete mir das ein! Was ich schrieb, sollte die Augen einflußreicher Menschen, der Schriftsteller, der Bürger auf die Noth der Armen lenken – was ich that, sollte, da ich anders nicht helfen konnte, die Kameraden hier eines besseren Looses werther machen. Und so geschah es auch. Mit einem von ihnen, Wilhelm, welcher fühlte und dachte wie ich, stiftete ich einen Verein unter uns unverheiratheten Arbeitern. Ich habe Dir einmal seine Statuten mitgetheilt. Dadurch ward Vieles besser. Trunkenheit und Spiel verschwanden bei den Jüngern. Dadurch, daß[33] wir aus einer gemeinschaftlichen Casse uns unterstützten, wenn Einer in unverschuldete Noth kam, so daß wir nicht nöthig hatten, uns unsere Arbeit von den Factoren vorausbezahlen zu lassen, büßten wir weniger an unserm Verdienst ein. Wir redeten ein vernünftiges Wort zusammen, sangen kräftige Lieder zu Trost und Erheiterung, lasen wohl auch hier und da ein nützliches Buch zusammen – und so kam manches Gute. Das Alles ist nun hin! Wir dürfen nicht mehr in unsrer besondern Stube zusammenkommen, keine Lieder mehr singen – Alles nicht mehr, was wir bisher gethan – spielen und uns betrinken aber – ja das dürfen wir!«

Gustav bat erschrocken theilnehmend um weitere Erklärung. Franz wußte seine Worte durch weiter Nichts zu ergänzen, als durch den außerordentlichen, drohenden Befehl von diesem Morgen. Dann fuhr er fort:

»Aber ist denn das etwa Alles? Unter diesem kleinen Haufen elender Arbeiter, von deren Dasein die Classe der bevorrechteten Menschen kaum mehr Notiz nimmt, als von einem Ameisenbau – werden die seelenerschütterndsten Trauerspiele aufführend gedichtet. Es giebt auch bei uns nicht nur äußerliches Elend und körperliche Schmerzen – wir haben all' die andern auch in fürchterlicher Größe. Ich bekam einst ein Schreiben von Ungenannten, das die Gleichheit aller Menschen predigte, von unsern Rechten sprach den[34] Reichen gegenüber und das endlich zum Widerstand gegen sie alle Armen aufforderte – Wilhelm ward ein Opfer dieser Ideen – wir sind seitdem unserer Freundschaft nicht mehr froh geworden.«

»Aber Du, Franz – Du? So will der wahnsinnige Communismus auch hier sich einnisten?«

»Ich habe oft Tag und Nacht gerungen – aber davon nachher. Nach einigen Wochen bekam ich einen zweiten Brief – er zeigte mir an, daß die Eisenbahnarbeiter hier in der Nähe aufstehen würden – der Sieg müsse den Armen bleiben, sobald sie nur wollten – wir wären ja einige Hundert – es gelte, ein Heldenbeispiel zu geben – die Andern würden folgen – der Tag der Erlösung sei nahe für die Armen –«

»Franz – und was thatest Du –?«

»Meine Antwort war – Schweigen. Du bist der Erste, der von diesem Brief erfährt –«

»Gott sei Dank, daß Du aushieltest in der Versuchung, mein starker Bruder!«

»Sie war groß – und wenn nun gar noch Reue käme? Die Eisenbahnarbeiter haben es nun schlimmer als früher, Einige von ihnen sind im Gefängniß. – Und wir? Wir haben es nun auch schlimmer. – Und was hatten wir denn weiter zu verlieren? Und wenn ich nun aus dem Brief kein Geheimniß gemacht hätte – und die Kameraden[35] wären seiner Mahnung alle beigesprungen – und viel Hundert Arme wären plötzlich aufgestanden wie ein Mann und hätten ihr Recht gefordert von den Reichen – was hätten sie denn beginnen wollen im ersten Schrecken? Nun büßen jene armen Brüder traurig ihre Kühnheit; und wenn nun ich daran Schuld wäre? Sie hatten Vertrauen zu mir, sonst hätten sie ja an einen Andern von uns ihre Mahnung schicken können – und ich habe ihr Vertrauen gemißbraucht – ach, das ist ein häßlicher Vorwurf – –«

»Franz, um Gottes Willen, Deine Gefühle verirren sich gräßlich, Deine Gedanken werden wirr –«

»Und laß' mich Alles sagen, dann richte, ob es mir nicht zu vergeben, wenn es so wäre, daß meine Seele die gewohnten Gedankengänge verlernte. – Du kennst ja Paulinen, Du bist ihr Lehrer gewesen – ich liebe sie – ja, ja – und sie liebt mich auch!«

»Die Tochter des Fabrikherrn?« rief Gustav in äußerster Erschütterung.

»Ja, und wer anders ist Schuld daran als Du? Du hast ihr Mitleid gelehrt mit den Armen und Gleichheit der Menschen – und so bist Du es, dem wir unsre Seligkeit und unsern Jammer danken!«

Es verging lange Zeit, bevor die Brüder wieder zusammensprachen, sie waren Beide zu schmerzlich bis in ihre innersten Seelentiefen durchschüttert. Der Eine von der[36] Mittheilung, wie er sie noch niemals über seine Lippen hatte gleiten lassen, der Andere von dem Ueberraschenden und Erschreckenden des Gehörten.

Endlich begann Franz wieder gefaßt: »Du bist ja jetzt weit herumgekommen, Du bist ja in jenen Staaten gewesen, wo die Bürger freier sind, als bei uns, und die Arbeiter nur desto gedrückter – dort sagt man ja, es gähre überall, dort wohne das, was Du Communismus nennst? Erzähle!«

»Ja, es will sich überall regen mit unheilvollen Zeichen. Gefährliche Verbindungen gründen sich auf gefährliche Systeme, die auf den Umsturz aller bestehenden Verhältnisse hinaus laufen –«

»Aber, Gustav, was soll endlich werden? Du nennst jene Systeme gefährlich – gefährlich sind sie für die wenigen Tausende, welche jetzt im Besitz und im Rechte sind – aber für die Millionen Rechtloser und Enterbter sind sie doch die einzige Rettung! – Meine Geduld geht zu Ende; ich schwöre sie ab. Wenn ein edles Volk unter schändlichen Tyrannen Fessel nach Fessel um sich schlagen sieht – so empört es sich endlich gegen seine übermüthigen Herrscher – die Armen sind alle ein großes unglückliches Brudervolk – warum sollen sie es nicht auch thun? Warum sollen die Armen nicht: »Freiheit und Gleichheit!« rufen? Wir wollen ein großes Brudervolk werden – brüderlich[37] die Arbeit theilen, brüderlich den Genuß – und hat man uns jetzt mit Gewalt unglücklich gemacht – warum sollen wir nicht versuchen, durch Gewalt glücklich zu werden? –«

»Du appellirst an die Gewalt – Dein Gefühl sagt Dir, daß die Gewalt der Reichen ein Unrecht, ein Verbrechen ist – und was würde die Gewalt der Armen Anders sein?« Gustav griff nach einem Buche, das unter andern Büchern und Papieren auf dem nächsten Tische lag. »Jene Leute,« sagte er, »deren Lehren zum Theil in dem Schreiben enthalten sind, welches man an Dich gerichtet hat, meinen es vielleicht redlich mit der Menschheit, ich will sie nicht verdächtigen. Sie lieben die Menschheit und ihre Noth hat ihnen in's Herz geschnitten – und so haben sie einen Plan ausgesonnen, die ganze Welt zu beglücken, welcher auf den ersten Anschein viel Bestechendes hat, weil er durch ein allgemeines Band der Liebe die Menschen zu vollkommner Gleichberechtigung vereinen will. Aber darin ginge die persönliche Freiheit zu Grunde – und eine solche Gemeinschaft, in der ein Jeder seine bestimmte Arbeit zu genießen bekäme, dafür aber nie mehr zu hungern und zu frieren, nie für sich selbst zu sorgen brauchte – hat ihre Vorbilder bei dem Loos der Amerikanischen Sclaven und der Russischen Leibeigenen. Dawider empört sich der freigeborene Mensch, dessen Glück im Streben beruht. Und empörte sich nicht Dein Herz dagegen, als man Dir Deinen Gott und Dein[38] Vaterland nehmen wollte? Jenes System des Communismus macht die Menschen zu Sclaven, denn es zwingt einen Jeden zur Arbeit, es macht sie zu Kindern, denn es nimmt ihnen die Freiheit des persönlichen Willens – aber noch mehr – es macht sie zu Thieren, denn es nimmt ihnen Gott und mit ihm alle Menschenwürde, es nimmt ihm die Familie und würdigt die Liebe der Gatten herab zu einem gemeinen sinnlichen Triebe – ja, es würdigt den Menschen noch unter das Thier, denn es reißt auch die Kinder von den Eltern und spricht ein Verdammungsurtheil aus über diese heiligsten Bande des Blutes! – Aber es giebt noch Andere, welchen die Noth der Erde eben so an's Herz geht, welche es auch ehrlich mit der Menschheit meinen, welche aber statt wahnsinnig zu zerstören mit klarem Blick und regem Fleiße fortbauen. Höre wie ein Solcher spricht.« Und Gustav schlug das Buch, das er ergriffen hatte, auf und las:

»Die Aufgabe der Menschen ist Vervollkommnung; Vollkommenheit würde sie tödten. Dem Gang der Vervollkommnung durch rohe Gewalt vorgreifen wollen, heißt nur die Unvollkommenheit verlangen. Die Ansprüche aller Menschen auf politische Rechte wie auf Glück und Gut sind gleich; die Theilung aber durch Gewalt bewerkstelligen wollen heißt nur die Rollen tauschen und den Bevorrechteten zum Rechtlosen, den Besitzenden zum Armen machen[39] um den Kampf der Gewalt auf's Neue hervorzurufen. So lang es Vernunft giebt, muß auf sie vertraut, so lang es ein Recht giebt, muß an seinen Sieg geglaubt werden. Wer Vernunft und Recht verwirklichen will, wende auch Vernunft und Recht dazu an.«

»Das Gewordene hat auch sein Recht. Es muß umgewandelt, nicht zerstört werden. Ist das Gewordene als Zweck nicht gut, so ist es gut als Mittel. Man denke nur daran es zu gebrauchen. Die Lage von Millionen unsrer Brüder ist beklagenswerth. Aber wie sie mit dem Gewordenen zusammenhängt, so muß sie auch in dem Gewordenen ihre Heilung finden. Das Gewordene in unserm Ganzen ist der Staat. Im Staat müssen wir die Mittel zur Besserung suchen. Gebt kein Gehör jenem leichtfertigen, die Nothwendigkeit des Entwicklungsgesetzes überspringenden Zerstörungsgeist, welcher glaubt die Welt zu bessern, wenn er sie umkehrt. Halten wir die gewordene Welt fest, aber reformiren wir sie durch Vernunft und Recht, durch Ueberzeugung und Gesinnung. Wir alle zusammen haben wenig Rechte im Staat, aber die Armen haben gar keine; so streben wir dahin, ihnen Rechte zu verschaffen, damit sie sich Glück verschaffen können. Wir haben wenig Mittel dazu, so gebrauchen wir um so mehr diejenigen, die wir haben. Es giebt noch viel vernünftige und rechtliche Leute unter den Besitzenden. die sich uneigennützig[40] dem Streben anschließen, dem Menschen zu erringen, was dem Menschen gehört, und die zu Opfern wie zu Kämpfen bereit sind. Und diejenigen, die fühllos genug sind, sich aus Eigennutz diesem Streben entgegenzusetzen, werden wir zu überzeugen wissen, daß gerade der Eigennutz sie bewegen soll, sich ihm anzuschließen. Wir werden jener Blindheit den Staar stechen, welche glaubt, ihren Besitzstand zu sichern, indem sie ihm durch feindliche Abwehr gegen die Gleichberechtigung nur erbitterte Gegner schafft; wir werden sie besiegen jene Blindheit des Besitzes, welche ihr Interesse zu wahren glaubt, indem sie sich der Blindheit der Gewalt anschließt und dienstbar macht. Wir werden sie verbannen, jene Verstocktheit des Egoismus, welche Alles behalten will, um endlich Alles zu verlieren.«

»Nur ernsten redlichen Willen, aber keine Gewalt! Die Gewalt stürzt aus der Luft, sobald sie nicht mehr umgangen werden kann; aber wer sie herabruft, ist ein Frevler an der Vernunft und an der Menschheit. Welche einzelne Gestaltungen ein friedlicher Kampf um die Besserung unserer Zustände uns noch bringen wird und wie viel Geduldproben wir noch zu bestehen haben werden, das vermag kein Mensch vorher zu bestimmen. Das aber präge man sich ein: es giebt keinen zweiten Schritt ohne den ersten, es giebt keinen wahren Fortschritt ohne Ueberzeugung,[41] und die Früchte des gesellschaftlichen Fortschrittes haben keine Dauer ohne den politischen

»Und wenn auch das Billigste als Verbrechen betrachtet wird, wir dürfen dennoch die Geduld nicht verlieren; je mehr Hindernisse desto festeren Willen! Ein schlechter Soldat im Kampf der Politik, der wegen eines Flintenschusses aus der Festung die Belagerung aufgiebt! Aber es war bis jetzt unser erster Fehler, daß wir kämpften wie die Wilden: im Anlauf sind sie stürmisch, in Schlichen sind sie thätig, aber in ehrlicher, offener Schlacht nehmen sie die Flucht, so bald der erste Mann fällt.«

Gustav hielt inne. Franz sagte: »Es beginnt schon wieder ruhiger in mir zu werden – vielleicht wird mir das Loos: der erste Mann zu sein – welcher fällt. Könnt' es die Sache der Armen fördern! – – Aber hier meine Hand, Bruder – ich will die Geduld nicht verlieren!«

Noch lange sprachen die Brüder zusammen und Franz stärkte die edle Seele an der gestählteren und zuversichtlicheren des ältern Bruders.[42]

Quelle:
Louise Otto: Schloß und Fabrik. Band 1–3, Band 3, Leipzig 1846, S. 20-43.
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