[56] »Doch wehe, wehe dem Mittellosen,
Wenn siech der Leib zusammenbricht,
Da rettet nicht des Weibes Kosen,
Da rettet die Pflege der Mutter nicht,
Da helfen nicht die Gebete der Kleinen.«
Karl Beck.
Ein paar Wochen waren vergangen, seitdem Pauline sich von Franz hatte zu der langen Liese führen lassen. Pauline hatte ihn unterdessen nur von Weitem gesehen, wenn er in die Fabrik oder an den Zahltagen in ihres Vaters Comptoir ging; sie war ihm auf ihren Spaziergängen, auch wenn sie dieselben nach dem allgemeinen Feierabend machte, niemals begegnet, und niemals hatte er sie im Garten aufgesucht, wie sonst, um irgend eine Angelegenheit, eine Bitte für die Unglücklichen, für welche er sich schon so oft verwendet hatte, vorzutragen. Nur ein Mal war sie ihm nahe in der Hausflur begegnet, wo er mit andern Arbeitern bei einem Factor gestanden hatte,[56] der sie eben Alle ziemlich hart anließ. Franz hatte Paulinen einen schmerzlichen Blick zugeworfen, zum Sprechen war der Moment nicht geeignet gewesen. Den Chirurgen hatte sie gleich, als er das erste Mal zu den verunglückten Kindern auf Ihr Geheis gekommen war, im Voraus bezahlt. Sie hatte Nichts wieder von diesen armen Leuten gehört, denn sie selbst war nicht wieder hingegangen, da sie nach dem ersten Empfang der langen Liese recht wohl einsehen gelernt, wie diese ihren Besuch weniger als eine Art Genugthuung, sondern mehr als Verhöhung betrachte. Ihren Bruder oder die Factoren nach der langen Liese und ihren Kindern zu fragen, hielt eine innere ängstliche Scheu sie ab.
Eines Abends saß Pauline allein im Garten wie gewöhnlich, denn um diese Stunde allein spazieren zu gehen wagte sie nicht, weil sie immer fürchtete, daß sie, wenn sie Fabrikarbeitern begegnete, von diesen roh behandelt werden mögte, oder doch wenigstens unziemliche Redensarten anhören müßte. Sie war sehr traurig, denn sie hatte auch Elisabeth lange nicht gesehen. Herr Felchner war sehr gegen den Grafen erbittert, seitdem dieser versucht hatte, sich mit in die Waldow'sche Angelegenheit zu mischen und jetzt auch vor Gericht gegen ihn auftretend gestrebt hatte, es dahin zu bringen, daß der Fabrikherr den Bach – welcher nun durch sein neu erlangtes Gebiet floß – aber zugleich durch Hohenthal'sche Besitzungen[57] ging – nicht zu einem Graben einengen und zum Treiben irgend eines Mühlwerks benutzen dürfe. Es war darüber ein Prozeß entstanden, welchen man nach der Art, wie er unter aristokratischen Einflüssen betrieben ward, eine ziemlich lange Dauer vorhersagen konnte. Herr Felchner liebte aber Alles mit Dampfschnelligkeit zu betreiben. Er hatte daher gegen den Grafen, der ihn dies Mal so hinderlich in den Weg trat, den giftigsten und bittersten Haß gefaßt und seiner Tochter streng verboten, wieder in das Schloß seines Todfeindes zu gehen. Diese war an Strenge gegen sich von ihrem Vater wenig gewöhnt, denn er begegnete ihr immer mit der zärtlichsten Liebe und ließ sie in Allem frei walten. Nur durfte sie niemals versuchen, ein Wort zu seinen industriellen Einrichtungen zu sagen, oder für die gedrückten Arbeiter eine freundliche Bitte vorzubringen. Er hatte ihr dies mit leidenschaftlicher Heftigkeit ein Mal für immer verboten und da sie bemerkte, daß sie durch ihre Vorstellungen meist nur gerade das Entgegengesetzte von dem, was sie zu erreichen wünschte, eintreten sah, so hatte sie für immer auf solche verzichtet. So wagte sie aus kindlicher Ehrfurcht wenigstens nicht sogleich das Verbot des Vaters in Bezug auf Schloß Hohenthal zu übertreten, da sie hoffte, er werde es vielleicht eher zurücknehmen, wenn sie ihm Gehorsam zeige, so lange noch die erste Heftigkeit seiner Erbitterung[58] währte. Elisabeth selbst war nicht in die Fabrik gekommen, weil leichte Unpäßlichkeit sie im Schlosse zurückhielt.
Noch niemals war es Paulinen einsamer vorgekommen, als jetzt, wo sie sinnend allein im Garten weilte.
Ein Gruß weckte sie aus ihren traurigen Träumereien.
»Guten Abend, Mamsellchen.«
Es war eine kleine dicke Frau mit rothem Gesicht, welche vorüber ging und den Gruß hinein rief. Pauline erkannte sie; es war die gutmüthig aussehende Frau, welche sie bei der langen Liese getroffen hatte.
»Guten Abend, Frau Martha,« sagte Pauline, »lauft doch nicht so vorüber. Was macht die lange Liese mit ihren armen Kindern?«
»Sie haben mich gleich erkannt?« sagte Martha schmunzelnd. »Sonst merken sich die feinen Mamsellchen uns arme Weiber nicht so leicht; das ist hübsch von Ihnen. Was die lange Liese macht? Da mag sich Gott erbarmen, die flucht Tag und Nacht. – Sie wissens wohl gar nicht, daß die Kinder Beide todt sind, der Junge und auch die kleine Liese!«
»Todt – Beide?!« rief Pauline, »Das ist ja entsetzlich!«
»Freilich wohl – aber ein Glück ist's doch auch, daß sie starben, was hätte aus den elenden Krüppeln werden[59] sollen? Und gut noch, daß sie Beide wenigstens gleich an einem Tage starben, da sind sie auch in einen Sarg und ein Grab gekommen und dadurch Kosten erspart worden.«
Ein leichter Schauer überrieselte Pauline, als sie diese Rede hörte, es war ein neuer tiefer Blick in das Elend der Armuth, die sich über den Leichen geliebter Kinder noch damit trösten muß, daß sie wenigstens zugleich starben, damit nur ein Sarg für zwei nöthig war.
Martha fuhr fort: »Ja, wenn es nur wenigstens Nichts kostete, der Tod ist ja auch nicht umsonst, wenn gleich das Sprichwort so heißt – nicht einmal die Sprichwörter wollen auf die armen Leute passen. Ich kann sagen, mir wird wohl manchmal Angst, wenn die lange Liese so flucht und dazwischen lacht und schluchzt, daß sich's greulich mit anhört – denn da weiß sie nicht mehr, was sie spricht, und versündigt sich gar gegen den lieben Gott im Himmel droben. Aber wahr ist's, schlecht hat sie's gehabt ihr Leben lang – ich und mein Mann, wir sind Beide gesund, und der Junge ist's auch, nun da mag's schon sein, wenn man auch wenig verdient, wenn man nur arbeiten kann und gesund ist, da ist unser eins schon zufrieden – aber wie ist nun die lange Liese selber elend geworden und wie sahen die Kinder jammervoll aus, die sie mit in die Fabrik schleppt – halten's einmal nicht aus und muß doch froh sein, wenn sie nur arbeiten dürfen.[60] Wenn Sie mir's nur gesagt hätten, wie die Kinder starben, ich hätte vielleicht Etwas thun können.«
»Ja, ich unterstand mir's nicht und dem Franz sagt' ich's ein Mal, weil der Sie doch heimgeführt hatte – aber er schüttelte den Kopf und sagte: ich gehe nicht wieder hin, geht lieber selbst – und sehen Sie, da dacht' ich in meinen Gedanken: wenn's der Franz nicht mehr wagt, da wag' ich's auch nicht.«
»Franz sagte: er wage nicht mehr zu mir zu gehen?« sagte Pauline mit dem Tone ungläubiger Verwunderung.
»Nun ja, er sagte wenigstens: ich gehe nicht wieder hin.«
»Er gehe nicht wieder zu mir?«
»Nun ja, es ist, als ob Sie Sich darüber verwunderten – ich dachte seiner Rede nach, Sie hätten es ihm verboten, oder gesagt, daß er zu oft käme.«
»Niemals, niemals! Sehen Sie Franz zuweilen?«
»Selten, doch trifft es manchmal, daß er mit meinem Manne zusammengeht, denn der hält große Stücke auf ihn.«
»Nun dann sagen Sie ihm, daß ich es seltsam fände, daß er mir sein Wort nicht mehr hielte – er wird schon wissen, was ich meine.«
»Schon gut – aber da steh' ich hier so lange und schwatze und wollte heute Abend noch Manches arbeiten.«[61]
»Damit Ihr nicht umsonst hie geblieben seid, so wartet noch einen Augenblick,« sagte Pauline und ging in das Haus.
Nach einer Weile kam Friederike mit einem Korb Eßwaaren heraus, welchen sie der Martha übergab. »Etwas davon mögt Ihr der langen Liese geben.«
»Das Mamsellchen ist gar gut,« rief Martha, »ich hab' es immer gesagt. Ich lasse mich schönstens bedanken, der liebe Gott mag's ihr vergelten, die Armen haben Nichts zu geben als fromme Wünsche.«
So ging denn Martha ihres Weges. Friederike that auch einige Schritte weiter und sah sich überall um. So stand sie eine Weile. Da rief plötzlich eine Stimme:
»Also endlich einmal!« Es war Wilhelm Bürger, welcher hinzutrat und ihre Hand erfaßte.
»Guten Abend, Wilhelm.«
Wilhelm hatte gleich am andern Tage, als er erkannt hatte, daß es ein großer Irrthum von seiner Seite gewesen, seinen Freund Franz für seinen Mitbewerber zu halten, Friederiken am Feierabend am Brunnen aufgesucht und ihr einfach gesagt, wie lieb er sie habe. Das gute Mädchen hatte verschämt und erröthend das angehört, und ihm durch einen herzlichen Händedruck versichert, daß sie ihm gar nicht gram sei, daß sein Wort ihr eine wahre Herzensfreude gegeben. So pflegten sie nun seitdem sich[62] oft auf gleiche Weise zu sehen. Wilhelm war heute ziemlich ernst und sagte nach einer Weile:
»Ist es wahr, daß Deine Herrschaft, ich meine Mamsell Paulinchen, seit einiger Zeit so kränklich ist?«
»Da habe ich Nichts davon bemerkt – das müßte ich wissen.«
»Verändert sieht Sie mir auch nicht aus – gleichwohl hat es der junge Herr, ihr Bruder Georg gesagt.«
»Was hat der gesagt? Er weiß gar Nichts von ihr, denn die Beiden sind verschieden wie Tag und Nacht.«
»Du weißt, daß sie den Chirurgen für das Kind der langen Liese bezahlt hat.«
»Und daß sie mit Franz selbst zu dem unglücklichen Kinde gegangen ist, seitdem sind aber Wochen vergangen und Franz hat sich nicht wieder blicken lassen, wie doch sonst.«
»Es ist ihm schwer genug geworden.«
»Warum ist er also nicht gekommen? Und was meinst Du mit dem jungen Herrn und dem Chirurgen?«
»Das wollt ich ja eben erzählen.«
»So rede schnell, denn ich kann jetzt nicht lange hier bleiben und weiß wirklich nicht, was Du eigentlich zu sagen hast.«
»Drum eben lass' mich zu Worte kommen. Wie der Chirurg das zweite Mal wieder gekommen ist, hat er[63] Franz aufgesucht und gesagt, es sei unrecht von ihm, daß er Fräulein Pauline immer so mit Erzählungen von Unglücklichen quäle, und sie dann berede, das Elend selbst mit anzusehen. Eine junge zärtliche Dame, wie sie, könne so Etwas nicht vertragen, sie werde dadurch selbst noch krank, weil es sie immer so angreife; ihre Gesundheit sei dadurch schon ganz zerrüttet – sie setze ihr Leben auf's Spiel, wenn sie es noch länger so treibe; sie selbst habe freilich davon keine Ahnung, um so mehr sei es jedes Menschen Gewissenssache, sie zu schonen. Franz war ungläubig gewesen – ich war es auch, dann sagte ich mir: die armen Leute müssen in diesem Elend leben und es selbst ertragen und die vornehmen Leute sollten gleich daran sterben, wenn sie es nur ein Mal erzählen hören, oder von Weitem einen flüchtigen Blick darauf werfen?«
»Mein Fräulein ist ganz wohl – und was will denn der Chirurg von ihr wissen, der sie niemals behandelt hat? Sie hat Gott sei Dank noch gar keinen Arzt gebraucht, seitdem sie hier ist. Und dieses alberne Mährchen hat Franz glauben können?«
»Er hat es auch nicht so recht geglaubt, aber ängstlich hat es ihn doch gemacht. Sie gönnen uns diesen Engel nicht!« sagte er ernst und bitter – aber wie er es sich näher überlegte, so hatte die Sache doch auch etwas Wahrscheinliches – »diese Mädchen sind einmal so zart,«[64] sagte er, »und wäre ich dann daran Schuld, daß sie wirklich litte – ich vergäb' es mir nie – und geistig leidet sie durch mich – nein, nein, ich will ihr Nichts mehr sagen – –« so meint' er.
»Aber welch' dummes Zeug!« rief Friederike: »Und warum hat er da nicht mich gefragt, oder warum es Dir nicht aufgetragen?«
»Er hat sich genug mit seinen Gedanken gequält und wie sie ihm nicht mehr Ruhe ließen, ist er selbst hergegangen, um sie zu sehen oder Dich zu sprechen. Der junge Herr hat ihn da zuerst getroffen und gefragt, zu wem er wolle? Er habe jetzt hier Nichts zu thun. Er hat Dich genannt, da hat ihn Georg sehr hart angelassen und gesagt – aber das ist zu hart!«
»Was hat er gesagt? Rede nur gerade heraus!«
»Er hat gesagt, daß ihn seine Schwester beauftragt habe, nicht länger den Skandal zu dulden, daß ihre Dienstmädchen mit den Fabrikarbeitern unpassenden Umgang hätten und daß es so schon eine Schande sei, daß die Christiane –« Wilhelm hielt inne und besann sich, daß er hier nicht weiter fortfahren könne.
Friederike ward roth und sagte: »Das ist eine Niederträchtigkeit! Die Christiane wäre lange aus dem Hause, wenn er sie nicht selbst hielte, und wir wissen recht gut, wer an ihrem Unglück Schuld ist – die armen Fabrikarbeiter[65] nicht, aber so will er freilich thun. Und nun gar dem Franz gleich das Schlechteste unterzuschieben – und nur weil er nach mir gefragt hat; das ist abscheulich!« Sie stampfte mit dem Fuß und hielt die Schürze vor das von Zorn und Scham zugleich geröthete Gesicht.
»Natürlich hat da Franz seine Mäßigung doch ein Wenig verloren,« fuhr Wilhelm fort, »er ist heftig geworden und der Herr hat ihm für immer verboten, das Wohnhaus zu andern Zeiten zu betreten, als wenn er zum Zahltag in das Comtoir kommen muß. Nun siehst Du, wie Alles gekommen ist; Franz ist seitdem ganz traurig, nur manchmal sagte er: ›ich mögte doch wissen, ob ihr Alles so recht ist, ob sie es weiß, oder ob es sie nicht einmal wundert, daß ich nicht mehr komme –‹ gestern sprach er auch so und weinte – nun wenn so ein starker Junge weint wie der Franz einer ist, das kann ich nicht gleichgültig mit ansehen, da wendet sich mir das Herz im Leibe um. Da sagt' ich mir: heute mußt Du mit Friederiken reden.«
»Weißt Du was?« sagte diese. »Mein Fräulein ist auch recht verdrießlich gewesen, daß Franz nie mehr gekommen, denn von All' dem, was Du mir erzählt hast, weiß und ahnt sie kein Wort – ich muß jetzt fort von Dir, wir haben schon zu lange geplaudert – wenn Du Franz triffst, so geh' mit ihm dort drüben in der Allee[66] ein Weilchen hin und her – wer weiß, macht nicht mein Fräulein noch einen Spaziergang dahin, und Franz darf ein paar Worte mit ihr sprechen, wo es Niemand gleich gewahr wird – denn das merk' ich nun schon, dem saubern Herrn Bruder ist es ein Gräuel, daß sie für die armen Leute menschenfreundlich fühlt und da helfen mögte wo er nur thrannisirt – leb wohl! Wir wollen sehen, ob wir uns heute noch wieder treffen.« Mit diesen Worten und einem raschen Händedrucke hüpfte Friederike fort.
Pauline war allein in ihrem obern Zimmer und hatte schon ein Mal vergeblich nach dem Mädchen geschellt. Als es jetzt eintrat, fragte sie: »Warum kommst Du so spät?«
»Ich bitte Tausend Mal um Vergebung,« sagte Friederike, »ich sprach einige Worte mit meinem guten Wilhelm.«
»Du weißt,« begann Pauline mit ernstem, warnendem Tone, »daß ich gegen Eure Neigung Nichts habe, allein –«
»Liebes Fräulein,« fiel ihr Friederike in's Wort, »ich fragte ihn nach Franz und da hatte er so Viel zu erzählen – ich wäre sonst nicht so lange geblieben.«
Pauline vergaß die mahnende Rede, welche sie begonnen hatte und fragte rasch: »Was sagte er Dir da? Vergiß nicht, Alles genau zu wiederholen, denn durch das, was ich von der Frau Martha erfuhr, ist mir Franz noch wunderlicher vorgekommen.«[67]
Friederike kam diesem Befehle getreulich nach. Als sie Alles erzählt hatte, ward Pauline immer nachdenklicher. »Es ist klar,« sagte sie, »mein Bruder will nicht, daß die Fabrikarbeiter zu mir Vertrauen fassen und daß ich die Schattenseiten einer großen industriellen Anstalt, wie die unsere ist, kennen lerne, er will nicht, daß ich mich mit diesen armen Leuten in eine gewisse Art von Verbindung setze. Er verachtet sie nur und meint vielleicht, sie um so williger zu jeder Arbeit zu finden, je ärmer und unglücklicher sie sind. Es ist gewiß, daß er den Chirurgen zu diesem seltsamen und abgeschmackten Märchen von meiner Krankheit verleitet hat. So werde ich freilich in Zukunft noch behutsamer sein müssen, als ich bereits war, damit er mich nicht hindert, irgend ein Elend zu lindern, wo ich kann und will.«
Friederike hatte ihrer Herrin nicht gesagt, daß sie Wilhelm und Franz in die Allee bestellt habe, sie verschwieg es auch jetzt, aber sie suchte Paulinen dahin zu einem kleinen Spaziergang zu bewegen, indem sie ihr beredt den schönen Sternenabend draußen schilderte und die leuchtenden Johanniswürmchen, die gerade in jener Allee sich jetzt so lustig tummeln sollten. Pauline willigte endlich ein, da der Weg nahe und überhaupt dort einer ihrer Lieblingsplätze war.
Franz stand dort allein. Was er für Paulinen[68] fühlte, hatte er dem Freund einmal gestanden, obwohl er selbst es sich noch niemals zu gestehen gewagt hatte, obwohl er es, was nur ein Mal seinem Innern zur Aussprache entlockt worden war, wieder in seines Herzens Tiefen zu verbergen strebte. Was er jetzt gelitten, wußte Wilhelm auch, und er gönnte dem Freunde die Stunde der Genugthuung, welche jetzt vielleicht für ihr schlug, so aufrichtig aus vollster Seele, daß er sie ihm durch seine Gegenwart nicht stören wollte – denn ein Zartgefühl, welches bei den feinen, geglätteten Menschen der Salons fast gänzlich in seiner Ursprünglichkeit verloren gegangen ist und nur als leere Etikettenform noch hier und da zur Erscheinung kommt, sagte diesem einfachen, unverdorbenen und unverbildeten Arbeiter, daß seine Gegenwart vielleicht den Freund stören könne, dem er, ohne es zu wollen, ein Geständniß seiner Liebe entlockt hatte, welches nun nicht mehr zurückzunehmen war, aber von dem, welchem das stille Geheimniß gehörte, doch gern wieder vergessen gemacht worden wäre.
Friederike, welche diese Gründe für Wilhelms Außenbleiben nicht ahnen konnte, weil sie Thalheims wahre Gefühle nicht kannte, und welche vielleicht auch dann Wilhelms Zartgefühl nicht ganz würde verstanden und getheilt haben, schmollte in Gedanken ein Wenig mit ihm, daß er[69] die schöne Gelegenheit, ein Wenig mit ihr zu plaudern, ungenützt vorüber gehen ließe.
»Guten Abend, Franz!« sagte Pauline freundlich zu diesem.
Er zitterte fast, als er diese sanfte Stimme wieder hörte, welche er Wochen lang nicht mehr, nur in seinen Träumen gehört hatte. »Sie sprechen so sanft zu mir,« rief er erschüttert, »nicht wahr, Sie zürnen mir nicht, wenn ich –«
»Wenn Sie eine Zeit lang Ihres Versprechens uneingedenk sein konnten, das Sie mir gaben, als ich nicht lange hierher gekommen war, oder daß Sie denken konnten, ich möge mein Wort nicht mehr halten – weiter habe ich Ihnen Nichts zu vergeben. Ich weiß – aber erst seit heute – Alles – daß man Sie über mich getäuscht und hintergangen hat – aber ich versichere Ihnen, daß ich an unserm damaligen Versprechen, daß Sie mich von jeder augenblicklichen Noth unsrer Fabrikarbeiter, welcher abzuhelfen möglich ist, unterrichten sollten, und daß ich dann Alles thun würde, was ich vermöge – gar Nichts geändert wissen will, und daß wir ihm treu bleiben wollen, nur – mit mehr Vorsicht als bisher, da es Leute geben kann, welchen es nicht recht ist, daß ich die Wunden verbinde, welche sie erst geschlagen.«
Franz schwieg.
»Ich ehre ihr Schweigen,« fuhr sie fort. »Sie wissen,[70] daß Diejenigen, welche mir nahe stehen, die Ursache sind, welche uns verhindern sollte, unser Versprechen zu halten, und Sie mögen deshalb keine Klagen wider sie erheben – ich ehre das, denn Vorurtheile sind gewiß auf beiden Seiten, und diejenigen, in welchen ein Mensch erzogen ist, leben mit ihm fort und beherrschen ihn, so daß er von einem andern Standpunkt aus ungerecht erscheint, wo er auf dem, welchen er nun einmal einnimmt, von Gerechtigkeit reden kann. Ich aber bin in den Lehren Ihres Bruders erzogen, welchem ich in der Stunde, wo er von mir Abschied nahm, gelobte – ich weiß es noch wörtlich wie einen Eid, den er mir abnahm, er sagte: ›Versprechen Sie mir, wenn nicht die Schwester, doch die Freundin der Armen und Niedriggeborenen zu sein und niemals die Regungen des Mitgefühls ersticken zu lassen, weil Sie vielleicht gewaltsam daran gewöhnt werden, das Elend um sich zu sehen, weil Sie vielleicht eines Tages sich sagen müssen: was ich thun kann, um die Noth zu verringern, ist nur ein Tropfen, den ich hinwegschöpfe von der Fluth des Unglücks, die Alles überschwemmt.‹«
»Ach, in diesen Worten erkenn' ich meinen Bruder.«
»Die Zeit ist schon da, wo ich mir das sagen muß,« fuhr sie fort, »aber niemals wird die Zeit kommen, wo ich diesen Schwur brechen werde.«
»Ja,« rief er begeistert, aber mit Thränen, »wenn[71] mehr Herzen schlügen wie das Ihre, wenn mehr Augen wie die Ihrigen sähen, Augen, welche, wenn sie gleich von Kindheit auf an den Glanz des Goldes und die bunten Flitter des Reichthums gewöhnt, doch nicht davon geblendet sind, wie die jener Tausend, welche dann das, was außer dem Bereich ihrer eigenen Lebensverhältnisse liegt, nicht blos unter lauter falschen Lichtern, grauen Nebeln und düstern Spinnengeweben, sondern so wie es wirklich ist gewahrten. Wenn Diejenigen, welche zufällig unter seidnen Betthimmeln geboren wurden, nicht das gleiche Bruderbild verleugnen wollten, weil es vielleicht auf elendem Stroh zur Welt kam – wenn sie nicht fortgesetzt die edle Menschengestalt verhöhnen wollten, weil die Lumpen sie nur schlecht bedecken und die Verwilderung des Elendes sie häßlich macht – vielleicht würde es anders, vielleicht könnte noch Alles gut werden. Der Arme verlangt ja so Wenig! Nur einen kurzen heitern Frühling für sein Kind, wo es nicht zu friern und zu hungern braucht, wo es lernen darf, wie man ein Mensch wird! Aber hier diese Kinder! Sie werden zu niedrer Thierheit herabgedrückt, und wie die heilige Wassertaufe den Teufel austreiben soll aus den Kindern – so ist es hier umgekehrt! Der Engel, der das Kind in's Leben begleitet, wird mit Gewalt aus der reinen Seele des Kindes gejagt, und in der heißen Hölle, wo die Dampfmaschinen arbeiten, zu[72] denen man es schickt, da kommen all' die finstern Teufel zu ihnen, welche Alle quälen, die zu ewiger Erniedrigung, zu ewiger Stumpfheit im Leben verdammt sind. – – Und wenn dann diese Kinder, welchen man kaum ein Wort von Christus gelehrt hat, auf dessen Namen sie doch getauft sind – wenn sie dann Männer werden – Männer, welche eine gleich abstumpfende Arbeit verrichten, wenn sie auch mehr Kraft dazu brauchen, als bei der, zu welcher sie als Kinder gezwungen waren, dann verachtet man sie, weil sie fluchen und trinken und rohe Worte haben und endlich vielleicht gar einmal auf den Gedanken kommen, blinde Rache zu üben an ihren Peinigern – was dann? Ich gehöre selbst zu diesem ausgestoßenen Geschlecht, und doch graut mir vor ihm, denn ich kenne es! Ach, daß es mehr gerechte Menschen gäbe, welche sich des Armen erbarmten! Nicht ihren Reichthum, nicht ihre Schätze brauchten sie ihm zu geben – aber nur nicht ihn für immer auch des Reichthums, des innern Lebens zu entblößen, das entehrende Brandmahl ewiger Unfähigkeit ihm aufzudrücken! Es könnte gut werden, wenn man die Kinder zu guten Menschen erzöge, statt zu blöden Sklaven – es ist ja der Vortheil Aller, daß überall gute Pflanzen getrieben und erbaut werden. – Niemand zieht ein Beet Unkraut in seinem Garten – wenn man nur das bedächte – es würde Alles gut.«[73]
Franz hatte sich im Selbstvergessen zu so langer schnell und feurig gesprochener Rede hinreißen lassen. – Plötzlich hielt er inne – ein schrillendes, widerliches Gelächter klang höhnisch durch die friedliche Abendruhe, und da verstummten plötzlich seine Lippen.
Pauline, die mit ängstlicher Spannung seinen Worten gefolgt war, schrak jetzt zitternd zusammen vor diesem lauten, gräßlich hallenden Gelächter.
Friederike, die etwas entfernt gestanden, drängte sich rasch und dicht an ihre Gebieterin.
Das Gelächter hatte die lange Liese ausgestoßen, welche jetzt mit raschen Schritten des Wegs gekommen war.
»Könnte noch Alles gut werden?« rief sie mit unheimlicher, wie wahnsinniger Stimme. »Würde Alles gut? Was denn? 's liegen viel Kinderleichen auf dem Kirchhofe, von den verfluchten Maschinen zerrissen – das wird doch nicht wieder gut, die stehen nicht wieder auf und kämen Engel vom Himmel! Gute Menschen aus Kindern – ei ja doch, gute Menschen, die gut arbeiten und gutwillig sich die Kinder verderben und sterben lassen – immer Eins von Beiden, verderben – sterben – verderben – sterben.«
Sie sang die letzten Worte mit kreischender Stimme ab und ging ihres Weges.
»Sie ist wohl wahnsinnig geworden?« fragte Pauline schaudernd.[74]
»Das nun wohl so eigentlich nicht – aber so ist ihre Art – sie ist in Verzweiflung über ihre Kinder,« versetzte Franz.
»Gute Nacht, Franz,« sagte Pauline und gab ihm die zitternde Hand.
Er drückte sie leise und sagte: »Ich darf es nun nicht wagen – durch Wilhelm und Friederike mögen Sie erfahren, wo wir um Ihre Hilfe bitten mögten.«
So trennten sie sich.[75]
Ausgewählte Ausgaben von
Schloß und Fabrik
|
Buchempfehlung
»Ein ganz vergebliches Mühen würd' es sein, wenn du, o lieber Leser, es unternehmen solltest, zu den Bildern, die einer längst vergangenen Zeit entnommen, die Originale in der neuesten nächsten Umgebung ausspähen zu wollen. Alle Harmlosigkeit, auf die vorzüglich gerechnet, würde über diesem Mühen zugrunde gehen müssen.« E. T. A. Hoffmann im Oktober 1818
88 Seiten, 5.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro