2. Božena

[78] Es mögen jetzt anderthalb Jahre her sein, daß, gleichfalls im Cottaschen Verlag, ein Band Erzählungen[78] von derselben Verfasserin erschien und alsbald die Aufmerksamkeit des gebildeten Publikums auf sich lenkte. Was der bis dahin in Deutschland wenig bekannten Schriftstellerin zu diesem raschen Erfolg verhalf, war nicht nur ihre überaus reizende und anmutige Erzählergabe, es war vor allem die überzeugende Lebenswahrheit ihrer Gestalten, das warme Leben, das in ihnen pulsierte. Der Leser mußte ihnen seine Teilnahme schenken, denn als Wesen seines Stammes, nicht als blutlose Schemen, traten sie vor ihn hin: die einen lächelnd, oder ein Lächeln hervorrufend, die andern mit trüb umflortem Blick, von der Last des Unglücks oder der Schuld gebeugt, aber alle ohne Ausnahme wahre, wirkliche Menschen, mit den Vorzügen und den Fehlern, dem Adel und der Schwäche ausgestattet, die unseres Geschlechtes Erbteil sind. Und wie die Zeichnung der Charaktere einen seltenen Scharfblick für die verschiedenartigsten Seelenzustände verriet, so bekundete das Gefüge der Handlung, die Art und Weise wie die äußeren Begebenheiten motiviert und herbeigeführt waren, eine große Weltkenntnis, ein starkes Gefühl für die Wirklichkeit und infolgedessen ein reges Verständnis für die Verhältnisse der Gegenwart, für die Forderungen, die sie stellt, die inneren und äußeren Konflikte, die sie heraufbeschwört. Wer da Augen hatte um zu sehen, der erkannte in diesen Erzählungen das Walten eines ebenso gebildeten wie[79] begabten Geistes, eines Gemütes, dem nichts menschliches fremd geblieben ist, eines Talents, dem die Fähigkeit ward, die der Wirklichkeit, wie das Gold dem Erz, eingesprengte Poesie ans Licht zu fördern. Das erklärt den Beifall, den sie fanden, das berechtigte jeden, der sich an ihnen erfreute, den ferneren Leistungen der Verfasserin mit hochgespannten Erwartungen entgegen zu sehen.

Diese Erwartungen wurden nicht getäuscht, sondern weit eher übertroffen. Alle Vorzüge, welche das frühere Werk Frau v. Ebners dem Publikum lieb und wert machten, finden sich in ihrem letzterschienenen, der einen Band füllenden Erzählungen »Božena«, wieder, aber eine fortschreitende Reife der Einsicht und eine größere literarische Erfahrung haben dieselben zu noch freierer Entwicklung gebracht. Wie eine Singstimme durch fortgesetzte Übung an Schönheit und Rundung des Tones gewinnt, so hat das Talent der Verfasserin, durch den Fleiß, der ihr zur Seite steht, zusehends an Umfang und Tragweite gewonnen. Ich meine nicht den Fleiß, der darin besteht, tagtäglich so und so viel Bogen vollzuschreiben – den haben nur gar zu viele! – sondern die künstlerische Gewissenhaftigkeit, die alles nur leidlich Gute als ungenügend verwirft, die, statt sich mit einem à peu près zu begnügen, an einem Werk unverdrossen schafft und feilt, bis sie es von der unscheinbarsten Makel befreit und nach bestem[80] Erkennen und Vermögen alle seine Teile harmonisch zusammengestimmt hat. Dieser Fleiß, diese unnachsichtige Strenge gegen sich selbst, diese Hingebung, die keine Mühe und Arbeit scheut, wenn sie dem im Entstehen begriffenen Werke zu gute kommen können, sie sind es, die den Künstler vom Dilettanten unterscheiden, wenn auch die ursprünglichen Anlagen beider sich zufällig die Wage halten sollten. Man muß in der Kunst sein höchstes Lebensglück erblicken, wenn man den Mut finden soll, ihr die Opfer zu bringen, die sie verlangt. Das wissen die Dilettanten nicht, die da meinen mit ihr tändeln zu dürfen, und noch weniger ahnen es die Handwerker, die sie als Gewerbe betreiben.

Die Erzählung bewegt sich in einfachen Verhältnissen; ihr bescheidener Schauplatz ist teils eine mährische Landstadt, teils ein in der Nähe desselben gelegenes gräfliches Schloß. Die Menschen, die sie uns vorführt, stehen, die großartig angelegte Hauptfigur ausgenommen, auf einem Niveau mit vielen anderen Erdenkindern, und eben so wenig Anspruch auf Absonderlichkeit haben die Begebenheiten, von denen sie berichtet. Worin liegt nun der Zauber, mit dem sie uns dennoch gefangen hält? Wie kommt es, daß wir den Lebenswegen dieser Menschen, an denen wir, wenn wir ihnen in der Wirklichkeit begegneten, vielleicht gleichgiltig vorübergehen würden, mit gespanntem Interesse folgen müssen? Es kommt daher, daß wir sie hier bis[81] zur innersten Herzensfaser kennen lernen und aus ihrem Charakter heraus ihr Tun und Lassen, ihr ganzes Schicksal mit unabweislicher Notwendigkeit sich entwickeln sehen. Die Wirklichkeit mit ihren tausend Zufälligkeiten ist gleichsam ein Nebel, der unseren geistigen Blick beschränkt, beirrt und ihn hindert, die Erscheinungen in ihrer Totalität aufzufassen. Die Poesie hat den Beruf, ihn mit ihrem mächtigen Odem zu zerstreuen und aus dem wüsten Chaos eine von ethischen Gesetzen beherrschte Welt zu schaffen.

Eine solche Welt erschließt sich uns in diesem Buch; eine allerdings eng begrenzte, aber festgefügte, abgeklärte, dem Spiel des Zufalls entrückte Welt. So klein sie ist, hat sie doch Raum genug für die Entwicklung der verschiedenartigsten Charaktere, für das Gewoge edler und niedriger Leidenschaften, Raum genug für Lust und Weh, Schuld und Sühnung. Die Menschen, die sie bevölkern, haben Blut in den Adern und sicheren Boden unter den Füßen. In der Führung ihrer Schicksale ist wohl ein leitender Gedanke – und wer möchte einen solchen vermissen? – aber keine Willkür und keine Absichtlichkeit bemerkbar. Mit selbstständigem Leben ausgestattet, werden sie nur von jener geheimnisvollen Kraft bestimmt, gelenkt, die, man mag sie Willen, Instinkt, angeborenen Charakter nennen, des Menschen tiefstes, unveränderliches Wesen ausmacht und sein Handeln bedingt. Die Kraft, mit welcher der[82] Grundzug ihres Wesens hervorgehoben ist, erhebt sie zu Typen, tausend feine, eigentümliche Züge verleihen ihnen den Reiz, der in der Kunst wie im Leben nur die individuelle Besonderheit ausübt. Es wird uns nicht gesagt, wes Geisteskinder sie sind, noch wissen sie es selbst, um so klarer wird es jedoch dem Leser durch jede ihrer Handlungen, ja durch jedes Wort, das aus ihrem Munde geht. Die Verfasserin läßt sich weder auf eine Analyse der verschiedenen Charaktere ein, noch befaßt sie sich viel mit der Beschreibung des Äußeren der uns vorgeführten Personen; dennoch blicken wir ihnen bis auf der Seele Grund, dennoch sehen wir sie in voller Leibhaftigkeit vor uns stehen und können sie uns nur in dieser, keiner anderen Gestalt denken. Die Phantasie des Lesers so mächtig anzuregen, daß sie dichterischen Gebilden eine schier greifbare Form geben muß, ist nicht bloß das Vorrecht eines großen Talents; es setzt auch jene Beherrschung aller künstlerischen Mittel voraus, die der natürlichen Begabung erst zu ihrer vollen freien Machtentfaltung verhilft.

Selbstverständlich bildet die Gestalt, die der Erzählung den Namen gibt, den Mittelpunkt derselben; an Leib und Seele ragt sie über alle anderen hinaus. Sie ist nur eine Dienstmagd, aber die Natur hat ihr eine jener Seelen gegeben, von deren Reinheit, Treue und selbstlosem Opfermut sich selbst diejenigen, die keinen sittlichen Maßstab für solche Vorzüge haben, unwillkürlich[83] das Knie beugen müssen. Wahrheit und Gerechtigkeit sind ihr Lebensodem; unter ihrem Zeichen kämpft und siegt sie. Man weiß kaum, was an dieser Figur mehr zu preisen ist, ob der grandiose Entwurf, ob die bei aller Vollendung so schlichte Ausführung, die derselben ihre vollkommene Naivetät und Unbefangenheit wahrt.

Nur flüchtig will ich den Gang der Erzählung in ihrer ersten Hälfte skizzieren. Wir lernen Božena im Hause des reichen Weinhändlers Leopold Heißenstein kennen. Jahre und Jahre hindurch findet ihr starkes, heißes Herz sein volles Genüge in der Liebe zu dem ihrer Pflege anvertrauten Kinde, dem von einer ränkevollen, nur auf das Wohl des eigenen Sprößlings bedachten Stiefmutter Schlimmes droht. Božena, in ihrem Liebling fortwährend gekränkt, will nicht länger Zeugin solchen schreienden Unrechts sein. Es kommt zwischen ihr und Frau Nannette zu einer heftigen Szene. Nachdem sie ihrer Entrüstung Luft ge macht hat, ist sie im Begriff das Haus für immer zu verlassen – da hängt sich Rosa an ihre Kleider, da fleht Rosa: »Geh nicht, geh nicht!« und um die ganze Kraft der Gewaltigen ist es getan. Sie bleibt nicht nur, sie erniedrigt sich zu der Bitte, bleiben zu dürfen, die ihr Frau Nannette im wohlverstandenen eigenen Interesse bewilligt, natürlich nicht ohne sie es durch tausend Nadelstiche entgelten zu lassen. In Boženas Innern[84] kocht und gärt es; Sanftmut und Fügsamkeit sind durchaus nicht ihre Haupttugenden, aber sie hat es ein für allemal aufgegeben, die Fesseln zu zersprengen, in welchen die Liebe zu dem nun schon herangewachsenen Mädchen sie gefangen hält. Sie kann, sie darf Rosa nicht verlassen. Zu all dem Drangsal gesellt sich noch ein neues Wirrnis. Božena ist dreißig Jahre alt geworden, ohne das Mannsvolk der geringsten Aufmerksamkeit zu würdigen: plötzlich faßt sie eine heftige Leidenschaft für einen jungen Menschen, dessen schönes Äußere einer erbärmlichen Seele zur Hülle dient. Sie täuscht sich nicht über seinen Unwert, sie verachtet sich ob ihrer Liebe zu ihm, und vermag dennoch nicht sie aus ihrem Herzen zu reißen. Bernhard hat zwar kein Herz, doch immerhin hat er sinnliche Begierden; stürmisch wirbt er um ihre Gunst. Sie erliegt der Versuchung: in stiller Nacht schleicht sie heimlich zu ihm. Die Strafe für ihren Fehltritt ereilt sie unmittelbar nach demselben: in derselben Nacht ist Rosa mit ihrem Geliebten, dem Leutnant Wilhelm v. Fehse, aus dem väterlichen Haus entflohen. Verzweifelnd muß Božena sich anklagen, daß nur ihre Abwesenheit diese Flucht ermöglicht hat. Dieser Schlag mitten ins Herz hinein, bricht den bösen Zauber, der so lange ihre Sinne und Gedanken bestrickt hielt. Für alle Zukunft sagt sie sich von Bernhard los; ihr Leben hat fortan keinen anderen Zweck als den, das Unheil gut zu machen, das sie, freilich ohne Wissen[85] und Willen, herbeiführen half. Sie folgt Rosa, die inzwischen Fehses Frau geworden ist, teilt Mühsal und Entbehrung mit den Menschen, die sie liebt, und verwendet ihre Ersparnisse zur Unterstützung des ärmlichen Haushaltes. Eine Machination Frau Nannettens hat nämlich den gerechten Zorn Heißensteins bis zu unversöhnlichem Groll aufgestachelt; alle Versuche Rosas, die Verzeihung ihres Vaters zu erlangen, bleiben erfolglos. Mit sich und der Welt zerfallen, streicht er ihren Namen aus seinem Testament und setzt Regula, seine Tochter aus zweiter Ehe, zur Erbin seines ganzen großen Vermögens ein. Aber die Rache, die er an Rosa nimmt, wendet sich gegen ihn selbst; ohne sich's einzugestehen, ja ohne es selbst zu wissen, liebt er die ungehorsame Tochter, die er zu hassen glaubt, und kann ihren Verlust nicht verwinden. Er siecht dahin an dem unheilbaren Riß, der durch sein inneres Leben geht. Nun drängen sich die Ereignisse. Gram und Sorge haben Rosas Gesundheit unterwühlt, sie stirbt im fernen Siebenbürgen. Bald darauf fällt Fehse im Kampfe gegen die ungarische Revolution. Božena, die Vielgetreue, bringt Röschen, das einzige Kind der nun im Grabe Wiedervereinten, auf ihren Armen in die Heimat zurück, die Mühen und Gefahren der weiten Wanderung nicht achtend. Als sie das Haus betritt, liegt Heißenstein im Sterben; die Nachricht von Rosas Tod hat ihm das Herz gebrochen. Sein letzter Blick ruht wehmut-[86] und liebevoll auf dem verwaisten Enkelkinde, sein letztes Wort schärft Regula ein, schwesterlich für die Kleine zu sorgen. Fräulein Regula ist jedoch sehr weit entfernt, dieses Gebot als bindend zu betrachten. Ein Inbegriff von Selbstsucht, Eitelkeit und Herzenskälte, verbannt sie das Kind in die Gesindestube, und wie einst Rosa, findet nun auch deren Tochter nur bei Božena und dem alten Kommis Weberlein Liebe und Zärtlichkeit. Boženas ganzes Sinnen und Trachten ist darauf gerichtet, Röschen in die von deren Mutter verwirkten Rechte einzusetzen, aber wie dieses Ziel ihres heißesten Wunsches erreichen? Daß Fräulein Regula nie gutwillig die Hand dazu bieten wird, ist nur zu gewiß. Da, während Božena unermüdlich nach Mitteln und Wegen späht, bricht die schwerste Prüfung über sie herein. Bernhard, den sie seither nicht wieder gesehen hat, kehrt, ein jetzt auch äußerlich ganz verkommenes Subjekt, nach langer Abwesenheit in die Stadt zurück. Er drängt sich in eine Gesellschaft, in welcher Božena anwesend ist und beschimpft diese öffentlich, indem er sie sein früheres Liebchen nennt. Die gute Meinung, die man von ihr hat, ist so fest gewurzelt, daß es nur eines Wortes aus ihrem Munde bedurfte, um die ganze Anschuldigung als Verleumdung oder als das sinnlose Geschwätz eines Halbbetrunkenen hinzustellen. Aber dieses Wort wäre eine Lüge, und Božena kann nicht lügen. Bernhards Behauptung[87] hat eine allgemeine Entrüstung hervorgerufen, man will ihn aus dem Saal entfernen; er aber tritt frech vor Božena hin, und fordert sie auf zu erklären, ob er wahr gesprochen habe, oder nicht. »Wahr!« stammelte sie mit gesenktem Haupte, vor Scham und Qual vergehend, doch selbst im Augenblick der entsetzlichsten Bedrängnis sich selbst getreu. Nun scheint alles verloren: sie darf nicht länger hoffen, den geringsten Einfluß zugunsten ihres Schützlings auf Regula auszuüben, vielmehr muß sie froh sein, nach jenem Auftritt im Hause noch geduldet zu werden. Jetzt aber beginnt die Wirkung eines sittlichen Gesetzes. Die Katastrophe, die so ganz danach angetan schien, Božena in den Staub zu treten, erhöht sie, nicht nur vor dem unsichtbaren Richter, sondern auch in den Augen der Menschen. Bewußt oder unbewußt fühlen alle, welche Zeugen jenes erschütternden Vorganges waren, wie wenig ein einzelner Fehltritt zu bedeuten hat, wenn er durch solche Reinheit des innersten Wesens, durch solche unverbrüchliche Wahrhaftigkeit mehr als aufgewogen wird. Die Achtung, die man ihr früher zollte, wird zur Verehrung, man weiß, daß jedes ihrer Worte Eideskraft hat. Diese allgemein verbreitete Überzeugung, die moralische Autorität, die sie Božena verleiht, geben dieser Mittel an die Hand, ihre Lebensaufgabe zu erfüllen, nämlich an Röschen gut zu machen, was sie an deren Mutter verschuldet zu haben glaubt. In welcher Weise dies[88] geschieht, auf welchem Wege Regula dahin gebracht wird, dem Mädchen sein Recht widerfahren zu lassen, will ich dem Leser nicht verraten, das Buch selbst mag ihm Aufschluß darüber geben. Er wird finden, daß das Interesse, das gleich der Anfang der Erzählung erweckt, sich fortwährend steigert, bis der mit psychologischer Meisterschaft herbeigeführte Schluß es voll und ganz befriedigt.

Selten wird man in einem Werke von verhältnismäßig so geringem Umfang – man erinnere sich nur an die vielbändigen Romane, die uns jahraus jahrein beschert werden! – einer solchen Fülle von originell erfundenen und mit strenger Konsequenz durchgeführten Charakteren begegnen. Wir treffen hier Menschen von den verschiedensten Gemütsarten, aus den verschiedensten Gesellschaftsklassen, und nicht bei einem von ihnen vermissen wir die bestimmt ausgeprägte individuelle Physiognomie. Die Hauptfiguren sind mit weiser, nie kleinlicher und peinlicher Sorgfalt ausgeführt. Bei Nebenpersonen genügen der Verfasserin wenige Striche, um uns das oft von humoristischen Streiflichtern umspielte Bild vors Auge zu zaubern. Es geht kaum an, aus einer Reihe von Gestalten, die alle von gleichem Lebensgefühl durchströmt, alle gleich wahr und vortrefflich sind, die eine oder die andere besonders hervorzuheben. Man hat ja aber selbst unter Brüdern noch immer seine besonderen Lieblinge und so mag ich wohl[89] gestehen, daß der alte Graf Rondsperg der meinige ist. In ihm zeigt sich uns der vollendete Typus eines österreichischen Kavaliers aus vormärzlicher Zeit. Welche Mischung von Gutmütigkeit und naivem Egoismus, von liebenswürdiger Bonhomie und aristokratischem Selbstgefühl! Wie wahrhaft adelig ist sein Gemüt und wie unfähig ist er doch den Unterschied von Recht und Vorrecht, die Notwendigkeit der Wandlungen, die um ihn her vorgehen, ja nur seine eigene wirkliche Lage zu begreifen! Und der Kommis Weberlein, das gnomenhafte Männchen mit dem reinen, edlen Herzen, der konservativen Gesinnung und den wunderlichen militärischen Velleitäten! Beide sind prächtige Kabinettsstücke voll überzeugender Wahrheit und köstlichen Humors.

Ein wesentlicher Reiz des Werkes beruht auf der streng eingehaltenen Lokalfärbung. Die Charaktere selbst sind so echt menschliche, daß sie überall vorkommen könnten; aber ihre Weise, sich in gewissen Äußerlichkeiten zu betätigen, sich zu geben, ist spezifisch österreichisch. Ebenso wären die Verhältnisse, in denen sich die handelnden Personen bewegen, an jedem beliebigen Orte denkbar und möglich, doch erinnern uns tausend kleine Nuancen derselben beständig an den besonderen Boden, auf dem sie sich entwickelt haben. Indem sie die Eigenart eines Volksstammes und seine von ihr bedingten Lebensformen richtig betont, gewinnt die Erzählung[90] an Frische, Anschaulichkeit und plastischer Rundung.

Der Stil des Buches ist vortrefflich; das will sagen: klar, einfach und edel, im Dialog ganz dramatisch bewegt, durchwegs von der größten Präzision des Ausdruckes in den ernsten wie in den humoristischen Teilen. Schon er allein bekundet, daß man hier einem echten Schriftstellertalent gegenübersteht.

»Und hat das Buch eine Tendenz?« Wie man's nehmen will. Eine religiöse oder politische oder soziale Tendenz hat es nicht, hingegen hat es eine Idee, die vermöge ihrer Wahrheit bestehen wird, wenn alle die jetzt so eifrig verfolgten Tendenzen längst anderen Platz gemacht haben werden. Sie ist die tiefste Seele des Werkes, der Lebensodem, der es durchweht. Ein edler, zu früh dahingeschiedener Dichter hat die Idee mit den Worten ausgesprochen: »Unüberwindlich ist allein der Gute!«

Mit Dank und Freude möge die gebildete Lesewelt diese wertvolle literarische Erscheinung willkommen heißen.

Quelle:
Betty Paoli: Gesammelte Aufsätze. Wien 1908, S. 78-91.
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