|
[132] Wenn ich, indeß in Dämmerungen
Verschwimmt des Abendhimmels Glut,
Von deinem Arme liebumschlungen
Hinschiffe auf der dunkeln Fluth;
Wenn von der hohen Geistersonne,
Die mystisch dein Gemüth erhellt,
Ein Strahl als überird'sche Wonne
In meine düstre Seele fällt;
Wenn mitten in den Frühlingsscherzen,
Womit das Jetzt uns hold umwebt,
Ein Schatten von vergangnen Schmerzen
Um deine schöne Stirne schwebt;
[133]
Wenn ich in deinem tiefsten Wesen,
Von mir allein erforscht, erkannt,
Desselben Schicksals Spur kann lesen,
Das meinen Busen wund gebrannt;
Wenn du, vergessend deiner Loose,
Mit meinen dich betrübst und freust,
Und deines Hoffens schönste Rose
In meines Lebens Abgrund streust:
Da sinkt die letzte, dunkle Schranke;
Mein inn'rer Zwiespalt ist versöhnt,
Und aufwärts ringt sich mein Gedanke,
Wie Sang durch Morgenluft getönt!
Da wird von tausend Seligkeiten
Mein staunend Herz erfaßt, entführt,
Und klingt wie einer Lyra Saiten,
Wenn sie geweihte Hand berührt!
Da fühl' ich, was der Meereswelle
Des Mondenstrahls geheimer Kuß,
Und was den Bienen ihre Zelle,
Den Bergen ist der Sonne Gruß;
[134]
Und was dem Wandrer durch die Wüste
Ein Quell, auf den er dürstend trifft,
Was müdem Segler ist die Küste,
Nachdem das Weltmeer er durchschifft;
Was einem Weib im Wittwenschleier
Das Kind, das ihres Lebens Zier,
Was einem Sclaven sein Befreier,
Und mehr noch ist dein Lieben mir!