Das 18. von Schimpff.

[17] Ein Lew ließ die Klawen im Baum.


Es was ein alter Lew, der mocht nit wol me jagen und lag in einem Loch, und hat ein jungen Sun, der speißt in, als billich was. Der alt Lew gab dem jungen Lewen ein Ler und sprach zů im: ›Lieber[17] Sun, sich zů, das du mit keinem Menschen fechtest, hab nichtz mit im zů schaffen! Wan er ist stercker dan alle Thier, so würt es dir nimer übel gon.‹

Der jung Lew empfand seiner Stercke und verachtet seines Vatters Ler und gieng uß und wolt doch ein Menschen sehen und fand zwen Ochsen bei einander und zůsamengebunden under ein Joch. Der Lew sprach zů inen: ›Sein ir Menschen?‹ – ›Nein‹, sprachen sie, ›aber ein Mensch hat unß zůsamengebunden‹. Er kam weiter, da fand er ein reisingen Hengst, der was wol beschlagen und het ein Sattel uff dem Rucken und ein Zaum in dem Maul, und gebunden an ein Baum. Der Lew sprach zů im: ›Bistu ein Mensch?‹ Er sprach: ›Nein, aber ein Mensch hat mich gebunden.‹

Er kam weiter, da fand er ein Buren Holtz hawen vor einem Wald, er sprach: ›Bistu ein Mensch?‹ Der Buer sprach: ›Ja‹. – ›Wolan, so rüst dich, wir wölen mit einander fechten.‹ Der Buer sprach zu dem Lewen: ›Gůt Gesel, hilff mir das Holtz zerspalten, so wil ich dir darnach zů Willen werden.‹ Der Buer thet ein Streich mit der Axt an dem Baum da vornen und macht ein Spalt und lert den Lewen, wie er mit den Klawen den Baum solt von einander zerren. Da der Lew die Klawen in den Spalt stieß, da zohe der Buer dy Axt uß dem Spalt. Da schnalt der Baum wider zůsamen, und was der Lew gefangen. Der Buer lieff zů dem Dorff zu und macht ein Geschrei: ›Ein Lew, ein Lew!‹ Die Buren alle zů dem Dorff hinuß mit Spiessen, Gablen, Stecken gegen dem Lewen. Der Lew sahe, das er in Dotsnöten was, und zart die Füß heruß, und bliben im die Klawen in dem Holtz stecken, und entlieff den Buren mit groser Marter, zögt seinem Vater sein blutigen Füß und sprach: ›Vatter, het ich deinem Rat gefolgt, so wer es mir nit also gangen. Ich hab erfaren, was du mir hast gesagt.‹

Quelle:
Johannes Pauli: Schimpf und Ernst. Teil 1. Berlin 1924, S. 17-18.
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