Von Schimpff das 326.

[200] Zwen Blinden schruwen.


Es stůnden auff einmal zwen Blinden under einem Thor, da der Künig oben in dem Sal saß und aß, und mocht zů demselbigen Thor sehen und sahe, wer da uß und yngieng. Da schrei der ein Blind: ›O wie ist dem so wol geholffen, dem der Künig oder Keiser wil helffen!‹ Da fieng der ander Blind auch an zů schreien und sprach: ›O wie ist dem so wol geholffen, dem Got wil helffen!‹ Und also eins umb das ander schrauwen die zwen Blinden, dieweil der Keiser oder Künig aß. Der Keiser wolt doch versůchen, was sie für Glück hetten, und ließ zwen Kůchen bachen, und in den einen thet er vil Guldin, das er schwer was, in den andern thet er vil Dottenbein, das er leicht was, und hieß dem Blinden den schweren Kůchen geben, der da zů dem Künig schrei. Da jeglicher sein Kůchen het, da giengen die Blinden zůsamen und fragten einander, was im worden wer. Der ein sprach: ›Man hat mir als ein leichten Kůchen geben.‹ Da sprach der ander: ›So ist meiner als schwer, ich mein, es sei häberen Brot. Lieber, lassen unß tuschen mit einander! Ich hab alwegen gehört: Brot bei der Leichte und Keß bei der Schwere.‹ Die tuschten mit einander.

Morgens kam der aber und schrei: ›O wie ist dem so wol geholffen, dem der Künig wil helffen!‹ Der ander Blind kam nit me; er het gnůg. Der Keiser kam und ließ den Blinden fragen, wa er den Kůchen hin het gethon. Der Blind sprach, er het mit dem andern Blinden getuscht, wan er wer leichter gewesen dan der sein. Da sprach der Künig: ›Der ander Blind hat noch recht geschruwen, das dem wol geholffen ist, dem Got wil helffen. Du solt nichtz haben. Darumb bleib du in dem Ellend!‹

Quelle:
Johannes Pauli: Schimpf und Ernst. Teil 1. Berlin 1924, S. 200-201.
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