Von Ernst das 333.

[204] Ein Frau bettet Pater noster.


Es was ein Frawe, die lag allemal uff iren Knüwen hinden in der Kirchen und bettet und weint vor Andacht. Da was ein heiliger Bischoff oben uff dem Letner, der sahe, wie ein Taub kam und laß dieselben[204] Trehen uff und flog darnach wider hinweg. Der Bischoff gieng uff einmal zů ir und fragt sie, was sie bettet, das sie also darzů weint, und sagt ir auch von der Tuben. Die Frau sprach: ›Ich kan nichtz betten dan das Vatterunser.‹ Der Bischoff sprach: ›Künten ir dan erst den Psalter betten und die schönen Psalmen, die darin ston, so würden ir noch andechtiger werden.‹ Die Frau lert es; aber das Weinen wolt nit me kumen. Da sahe der Bischoff die Taub auch nit me kumen und sprach zů der Frawen, sie solt das Vatterunser wider betten. Die Frau bettet es wider, da kam ir das Weinen wider und die Taub auch.

Darumb so ist das Vatterunser das würdigest, nützlichest und kürtzest Gebet. Darum sollen unsere Beginen und jung Witwen alwegen in irem Fůterseckel ein Paternoster haben stecken. Sie haben Fütersecklin, da haben sie ein Löffel, Messer und Paternoster in stecken und etwan auch ein Bůlbrieff.

Quelle:
Johannes Pauli: Schimpf und Ernst. Teil 1. Berlin 1924, S. 204-205.
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