Von Ernst das 645.

[357] Argus het hundert Augen.


Uf einmal waren zwen Jäger. Der ein hieß Argus (est fabula), der würt beschriben, das er hundert Augen hab gehebt. Der ander het nit me dan das linck Aug. Die zwen Jäger jagten ein Hirtz,[357] und der Hirtz kam zů einem Buren in die Schüer und sprach: ›Lieber Buer, behüt mich und verbirg mich vor den zweien Jegern!‹ Der Buer sprach: ›Ich wil dich wol vor dem Polifemo behüten, aber vor dem Argo nit‹, und warf Straw uff in. Polifemus fand in nit; aber Argus sahe in wol und erstach in.

Also geistlich, Got ist Argus, und hat me dan hundert Augen. Polifemus ist der Mensch. Es kumpt etwan, das ein Mensch gejagt würd, durchechtet von Got und von dem Richter. Er sei weltlich oder ein geistlicher Richter, so magstu dich wol verbergen durch falsche Verantwurten mit Gaben und Schencken; wan er hat nit me dan ein Aug, das ist, er erkent nur das Leiblich, und dannocht nit gar. Er hat nit me dan das linck Aug; er sicht nichtz me an dan den Seckel und das zeitlich Gůt; er mangelt des rechten Augs, das ist, er acht des Geistlichen und des Ewigen nichtz. Het es sich geleibt, es selet sich etwan. Aber Got kanstu nit entgon.

Quelle:
Johannes Pauli: Schimpf und Ernst. Teil 1. Berlin 1924, S. 357-358.
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