|
[99] Der Dichter und des Schicksals Zorn,
Von einer Mutter stammen beide, –
Die Zwillingsbrüder blieben treu
Beisammen stets, im Kampf und Leide.
Auch damals grünt' wie jetzt der Baum,
Gab seinen Schatten mild zum Besten,
Dem Dichter nützt' er auch, der brach
Den Bettelstab sich von den Ästen.
Der Bettelstab, des Schicksals Zorn,
Das waren seine einz'gen Lieben;
Wenn alles treulos ihn verließ,
Die beiden sind ihm treu geblieben!
Und seine Leier? Und sein Lied?
Der Dichter hat ja eine Leier?
Lang ist es her, daß sie erklang,
Im hohen Schwung, im heil'gen Feuer.
Einst griff in ihre Saiten er,
Und sieh, es schweigt des Donners Dröhnen,
Und es verstummt des Sturmes Wut
Und lauscht den tiefbewegten Tönen.
Der Himmel, wetterwolkenschwarz,
Er hört des Dichters süße Lieder,
Vergißt den Grimm, und lächelt mild
Auf ihn mit seinen Sternen nieder ...
Und als der Dichter hungrig ward,
Da ging er zu den Menschensöhnen;
Mit seinem Lied ihr steinern Herz
Zu rühren, war sein eitles Wähnen.
[100]
Und dieses Lied, das stark genug,
Des Donners Stimme zu bezwingen,
Und das des Himmels Zorn verscheucht,
Er ließ es noch einmal erklingen:
Doch was ein Sturm, ein Gott verstand,
Den Menschen war's zu schlecht gesungen,
Und damals war aus Gram und Scham
Die Leier ihm entzwei gesprungen.
Mit seiner Leier war's vorbei,
Doch war ihr Tod ein Tod mit Würde.
Wie es dem Dichter dann erging?
Er trug des Lebens schwere Bürde.
Bis er nach langen Jahren einst
Vor einem neu'n Geschlecht erschienen,
Gefurchter Stirne, bleichen Haars,
Und schweren Kummer in den Mienen.
»O ein, zwei Groschen, nehmt dafür
Den besten Segen, den ich habe!«
Wie dürre Äste streckt er hin
Die Hände, flehend nach der Gabe.
»Wer bist du, Mensch des Jammers, sprich?«
So hört er rings die Menge fragen,
»Den Gottes Zorn so fürchterlich
Mit seiner schweren Hand geschlagen?«
Er nennt den Namen, fleht aufs neu':
»Nur ein, zwei Groschen!« Und die Leute:
»Gepriesen sei der Augenblick,
Da dein Erscheinen uns erfreute!
Dein Name strahlt wie Sternenpracht,
Dich preist entzückt dein stolz Jahrhundert,
Und deine Lieder, einst verkannt,
Sind unser Stolz jetzt, und bewundert!
[101]
O komm', weg mit der Bettlertracht,
In Seid' und Samt sollst du dich kleiden,
Mit Lorbeer sei dein Haupt umkränzt,
Und nie mehr sollst du Hunger leiden!«
»O schöne Red'! O vielen Dank!
Doch ist der Hunger mir vergangen,
Und gegen Samt die Bettlertracht
Zu tauschen, trag' ich kein Verlangen!
Wie stolz in diesem Lorbeerkranz
Würd' eines Jünglings Stirn erglühen!
Auf meinem alten Haupt jedoch
Wird nie mehr dieser Kranz erblühen!
O schenkt nur ein, zwei Groschen mir,
Daß Gott euch's tausendfach vergelte!
Der Tischler wartet auf das Geld,
Bei dem ich mir den Sarg bestellte!« ...
Buchempfehlung
In ihrem ersten Roman ergreift die Autorin das Wort für die jüdische Emanzipation und setzt sich mit dem Thema arrangierter Vernunftehen auseinander. Eine damals weit verbreitete Praxis, der Fanny Lewald selber nur knapp entgehen konnte.
82 Seiten, 5.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro