Der erste Auftritt

[252] Lucie und Betty.


BETTY. Nunmehr, da alles bereit ist, da Sie in einem Augenblicke so glücklich sein können, als Sie es wünschen, fangen Sie Ihre ewigen Klagen von einer verlornen Tugend, und ich weiß nicht, von was für Grillen mehr von neuem an. Glauben Sie mir, ich bin müde, sie anzuhören.

LUCIE. Klage nicht mich, klage die grausame Natur an, daß sie, selbst mich noch mehr zu quälen, mir ein weniger unempfindliches Herz gegeben hat. Bedenke, es ist der Southwell, der mir so oft in seinen Armen eine fast väterliche Zärtlichkeit und Liebe hat sehen lassen, der alle Tage auf eine neue Freude und Wohltat für mich sann –

BETTY. Ja, es ist der Southwell, der Sie mit dieser väterlichen Zärtlichkeit und Liebe in seine Arme schloß, weil er seine zukünftige Gemahlin zu umarmen glaubete. Der Southwell ist es, der Ihnen vielleicht Wohltaten erwies, um den Ruhm zu besitzen, sie erwiesen zu haben; der bei alle Ihrer Freude mit einem gewissen Stolze auf Sie herabsah, daß Sie seiner Wohltaten nötig hatten; der Ihnen ebenso wie die übrige Welt mit ebensoviel Verachtung, als er Ihnen vorher Zärtlichkeit erwies, begegnen wird, wenn Sie Ihre Schande nicht länger werden verbergen können.

LUCIE. Fahre fort, alle Wut meiner Rache rege zu machen, und ich, ich werde fähig sein, ihm nicht nur das Gift selbst zu überreichen, sondern auch mit einer geheimen Wollust alle die kleinen Martern zu bemerken, mit denen er den Tod fühlen wird. Ist er nicht die Ursache meines Unglückes, und habe ich ihn nicht schon zu lange ungestraft leben lassen?

BETTY. Diese Stunde ist die einzige, in der Sie noch zwischen der Schande und der Glückseligkeit wählen können. Jetzt ist Ihr Liebhaber noch in England, und der Tod seines Vaters wird ihn in wenig Augenblicken wieder zu Ihnen zurückebringen. Selbst nur heute noch kann Ihnen Betty nützlich sein. Sie wissen, der alte Southwell hat mich harte genug aus seinen Diensten gejaget, weil ich Ihr Glück dem meinigen vorgezogen habe. Ich werde alle meine List nötig haben, mich noch heute in seinem Hause aufzuhalten. Lassen Sie diesen Tag vorbeistreichen, so werden Sie keine einige Seele mehr zur Gesellschafterin bei Ihren Klagen haben.[252]

LUCIE. Nein! das Opfer soll keinen Augenblick länger aufgeschoben werden! Du aber, o Rache, laß mich nicht mehr die ehemalige Zärtlichkeit, laß mich Stolz, laß mich Verachtung in seinem Auge lesen, damit sich mein Herz nie an sein törichtes Mitleiden erinnern möge. Wer empfindet dies Mitleiden gegen Lucien, und wer verdienet es also, daß sie es gegen ihn fühlet? Aber ich zittere, Betty, wie? wenn die Welt mein neues Verbrechen –

BETTY. Fürchten Sie doch nichts! Ist das möglich, daß sie etwas davon erfahren kann?

LUCIE. Sir Willhelm kömmt! Ich kann unmöglich seine Gegenwart ausstehen. Alle Standhaftigkeit meiner Rache wanket! Befestige sie noch einige Augenblicke, du bist die einzige, die es tun kann.


Quelle:
Die Anfänge des bürgerlichen Trauerspiels in den fünfziger Jahren. Leipzig 1934, S. 252-253.
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