Der zweite Auftritt

[253] Sir Willhelm und Sir Robert.


WILLHELM. War das nicht Lucie? Sie flieht mich unfehlbar aus Haß. Nichts fehlte noch als dieser Haß und die Verachtung meines eignen Sohnes, mein Unglück vollkommen zu machen. Und diese letztere, Robert, habe leider deiner voreiligen Freundschaft zu danken.

ROBERT. Gewiß! du tadelst mich unbillig. Ich habe dadurch, daß ich deinem Sohne noch vor seiner Abreise die Ursache entdecket, welche seine Verbindung mit Lucien unmöglich machet, das einzige Mittel gewählet, ihn von dem Untergange zu retten. Mit was für Wut und Haß gegen seinen Vater würde er abgereiset sein, da er nunmehr diesen Haß, diesen Abscheu gegen sich wenden muß. Ich bin nur unwillig auf dich, daß deine unzeitige Darzwischenkunft und Eilfertigkeit mir die Gelegenheit geraubet hat, ihm noch alle Umstände der Sache zu entdecken.

WILLHELM. Aber hast du mich nicht auch zugleich durch die Entdeckung dieses Geheimnisses, das ich so sorgfältig zu verbergen gesuchet habe, in den Augen meines eigenen Sohnes verächtlich gemachet? Wie würde ich in seiner Gegenwart die Miene eines Vaters annehmen können? Ist es nicht noch die einzige Glückseligkeit für mich, daß ich ihn vielleicht sobald nicht wiedersehen werde? Konntest du dich nicht erinnern, was für ein elendes Geschöpf ein Vater ist, dessen Verbrechen seinen eigenen Kindern bewußt sind?

ROBERT. Aber Willhelm, diese gefährliche Krankheit erfoderte ein ebenso gefährliches Gegenmittel. Folge mir und entdecke die Unmöglichkeit dieser[253] Verbindung Lucien ebenso, wie ich sie deinem Sohne entdecket habe. Kannst du so grausam sein und ihr den einen Gegenstand ihrer Liebe rauben, ohne ihr einen andern wiederzugeben, den sie noch zärtlicher lieben würde.

WILLHELM. Schilt mich nicht grausam. Es ist die blutigste Rache gegen mich, daß ich sie seufzen lassen muß. Doch nimmermehr kann ich mich in ihrer Gegenwart selbst verdammen. Nein! Karls Abwesenheit, der Rest ihrer eigenen Tugend, meine verdoppelte Sorgfalt und mehr als alles die Hilfe des Himmels werden mir vielleicht auch ohne die Entdeckung meiner Schande das Vergnügen schenken, Lucien zu ihrer ersten Tugend wieder zurückekehren zu sehen. Hat sich nicht schon diese Wut, dieser wilde Haß aus ihrem Auge verloren? Meine Liebe soll ihre noch zurückhaltende Zärtlichkeit für mich bald wieder in ihre ehemalige offenherzige verwandeln. Ich will sie durch neue Gütigkeiten gewinnen. Mein Testament, das ich dir gegeben habe, soll der Anfang hierzu sein. Hätte ich doch Lucien mehr in demselben vermachen können als die Hälfte meines Vermögens, könnte ich ihr durch dasselbe eine unschuldige, eine unbeleidigte Tugend wiedergeben! Aber ach! wie könnte ich ihr etwas geben, das ich selbst nicht besitze! Hebe es auf, vielleicht ist der Tag bald nah, da du deinem Freunde in der Vollziehung desselben die letzte Liebe erweisen kannst.

ROBERT. Noch spät sei er! Lebe noch, Lucien und deinen Sohn glücklich und tugendhaft zu sehen, und dann, wann du kein Glück weiter hier zu erleben hast, erwarte das vollkommenste, das dir keine Tugend verdienen kann.

WILLHELM. Nein, Robert, diese Welt, die auch sonst für den Weisen ihre Freuden hat, hat für mich keine mehr. Damals hatte sie einige für mich, da ich auf einen Sohn stolz war, von dem ich glaubete, daß er meine Sorgfalt durch seinen Gehorsam belohnete, da ich mich von einer zärtlichen, von einer tugendhaften Lucie geliebet erblickete. Aber jetzt, da selbst mein Stolz in die Schande hinabgesunken, da mein Sohn durch seinen Ungehorsam ein Bösewicht geworden ist, da diese Lucie von einem unseligen Feuer brennt, welches ein Herz, voll von der zärtlichsten Liebe gegen sie, mit Abscheu erfüllt, jetzund ist der Tag der glücklichste für mich, welcher der letzte eines elenden Lebens sein wird. Zwar oft wünsche ich noch so lange zu leben, bis ich Karln und Lucien wieder tugendhaft sehen möchte. Aber wie, wenn sie diese erste Tugend nie wiederfinden sollten; und wie schwer findet sie das Herz, das sie einmal vergessen hat, wieder? Müßte nicht der mein Feind sein, der mir sodann die[254] geringste Verlängerung meines Lebens und meiner Schmerzen wünschen könnte? O Freund! was wäre der Elende ohne die Hoffnung, daß jeder Augenblick der letzte seiner Klagen sein kann?


Quelle:
Die Anfänge des bürgerlichen Trauerspiels in den fünfziger Jahren. Leipzig 1934, S. 253-255.
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