Der vierte Auftritt

[255] Lucie.


LUCIE. Herz! gottloses Herz! Es ist geschehen. Rühme dich deines Siegs, wenn du kannst. Doch du zitterst: ist es Mitleiden, ist es Verzweiflung, ist es Rache, die schon auf mich hereinstürzet? Meine törichten Augen, die selbst meine eigene Grausamkeiten nicht mit ansehen konnten! Verstockung und Frechheit, Hölle! dies ist das einzige, was ich dich bitte. Welche lasterhafte Seele hat dir jemals vergeblich darum geflehet? Verflucht sei seine Liebe, seine Zärtlichkeit. Warum war er nicht stolz, nicht grausam in dem Augenblicke, da er den tödlichen Trank aus meiner Hand empfing? Er verfolget[255] mich, der Barbar! Er wird mich durch neue Zärtlichkeiten martern und in meiner Unruhe und Verzweiflung alle meine Schandtaten lesen.


Sir Willhelm Southwell kömmt.


WILLHELM. Warum fliehen Sie diese Umarmungen, meine Lucie, denen Sie sonst mit so vieler Freude, Ihren Southwell zu beglücken, entgegeneilten? Sie zittern? Ist es Abscheu für den Mann, dessen ganze Seele jederzeit aus ungeduldiger Freude zitterte, seine Lucie glücklich zu sehen? Wenn haben Sie sich über einen einzigen meiner Blicke bis auf diesen unglücklichen Zeitpunkt beklagen dürfen? O könnten Sie in meiner Seele lesen, Sie würden sehen, daß meine Grausamkeit Liebe ist. Rufen Sie doch diese erhabene Tugend in Ihr Herz zurück, die sonst meine Seele mit so vielem Stolze erfüllete. Lucie, welche Zeiten! da Sie in dem Besitze derselben die ganze übrige Welt verachten konnten! Da Sie die Freude meines Herzens, die Ermunterung Ihrer Nachbarinnen und der Neid derer waren, über die Sie sich emporgehoben hatten, da man mich wegen Ihres Besitzes und Sie wegen Ihres eignen Herzens glücklich pries –

LUCIE. Unmensch, was quälen Sie mich durch die Erinnerung an eine Tugend, die ich verloren habe?

WILLHELM. Nein! Sie haben sie nicht verloren. Sie sind einen einzigen Schritt von ihr gewichen, und das edelste Herz ist dieser Versuchung ausgesetzet. Entschlüßen Sie sich nur, und Sie werden ebenso groß, so erhaben, so glücklich sein, als Sie es jederzeit gewesen sind. Sein Sie es. Southwell soll Sie auf seinen Knien mit seinen Tränen darum bitten, daß Sie glücklich sein wollen. Darf er Ihnen erst die Glückseligkeit eines Herzens schildern, das durch seine Tugend allein jeden seiner Augenblicke heiter machen kann?

LUCIE. Und wenn Sie mein Herz einen tausendfachen Tod empfinden ließen, Sie würden sich doch weniger grausam an mir rächen.

WILLHELM. Southwell hat keine Ursache, sich zu rächen, und wenn er sie auch hätte, so würde er sich eher an der ganzen übrigen Welt als an Lucien rächen können. Nur Liebe, väterliche Liebe – Welche ungewöhnliche Bewegungen! Es überfällt mich eine Schwachheit. Meine Knie wanken. Reichen Sie mir einen Stuhl. Sir Willhelm setzt sich, Lucie will voll Bewegung weggehen.

WILLHELM. Wollen Sie mich verlassen? Wie, wenn es meine letzten[256] Augenblicke wären, wollten Sie mich noch voll Haß sterben sehen? Er schließt ihre Hand in die seinige. Welche Pein wütet in meinen Gliedern. Wollen Sie mir nicht solche durch das Versprechen, mich zu lieben, mir meine erste, meine tugendhafte Lucie wiederzuschenken, erleichtern? Gott! wie wird mir? Mein Freund Robert hat auf allen Fall meinen letzten Willen. Er bestimmet Ihnen die Hälfte meines Vermögens. Hätte ich mehr tun können –

LUCIE. Zuviel haben Sie getan! Nehmen Sie Ihr Vermächtnis, nehmen Sie Ihre Liebe zurück. Ich will sie nicht. Sie sind das quälende Geschenk, das Sie mir machen können. Ihr Haß, Ihre Verachtung ist Trost, ist Ruhe für meine Seele.

WILLHELM. Beruhigen Sie sich, meine liebe Tochter. Sie verdienen nichts als Mitleiden, selbst von der eifrigsten Tugend. Wie leicht fehlt ein menschliches Herz, das selbst der strengste Tyranne über seine Leidenschaften ist.

LUCIE. Sie kennen mich nicht. Sehen Sie Ihre Mörderin! Sie hat ein Leben verkürzt, zu dessen Erhaltung sie das ihrige hätte aufopfern sollen.

WILLHELM. Nein! dieses ermüdete Alter war schon längst reif zum Tode. Die Schmerzen, die ich über Ihre Vergehung empfand, konnten nie meiner Gesundheit schädlich sein. Sie waren mit der Hoffnung verknüpft, Ihr Herz durch den Sieg über sich selbst noch größer zu erblicken – Ihre Reue, Ihre Tränen lehren mich, daß ich recht gehofft habe. Gott! wie süß wird mir der Tod selbst sein, wenn mein sterbendes Herz noch meine Kinder tugendhaft segnen kann. Warum raube ich mir noch die vollkommenste Freude, die Freude, meine Tochter an meine Brust zu drücken? Umarme deinen Vater, meine einzige, meine wahre Tochter! – Ach, der Schmerz dringt näher an mein Herz und erlaubet mir meine letzte Freude nicht. In mein Kabinett, Lucie, wenn es möglich ist.

LUCIE vor sich. O Laster und Tugend, welchem von euch soll ich mehr fluchen! Sie führet ihn hinweg.


Quelle:
Die Anfänge des bürgerlichen Trauerspiels in den fünfziger Jahren. Leipzig 1934, S. 255-257.
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