21. Morgenklage

[476] Von bebender Wimper tropft der Nacht Zähre mir,

Indes den ersehnten Tag verheißt Hahnenruf:

Wach auf, o betrübte Seele,

Schließ einen Bund mit Gott!


Ich schwöre den schönen Schwur, getreu stets zu sein

Dem hohen Gesetz und will, in Andacht vertieft,

Voll Priestergefühl verwalten

Dein groß Prophetenamt.


Du aber, ein einzigmal vom Geist nimm die Last!

Von Liebe wie außer mir, an Gleichwarmer Brust,

Laß fröhlich und selbstvergessen

Mich fühlen, Mensch zu sein!


Vergebens! Die Hand erstarrt, da voll stolzen Frosts

Nach irdischer Frucht sie greift! Es seufzt unter dir,

Schwermütige Wucht, Gedanke,

Mein Nacken tiefgebeugt!
[476]

Umnebelt den Blick die Welt, so laß, keusches Licht,

In reinere Lüfte mich emporschwebend gehn!

Wer aber hienieden setzte

Auf Wolken je den Fuß?


O seliger Mann, wofern gelebt Einer, der

In Ruhe die Nacht verbringt, und jedweden Tag,

Dem Rose genügt und Frühling,

Dem Liebe labt das Herz!


Quelle:
August Graf von Platen: Werke in zwei Bänden. Band 1: Lyrik. München 1982, S. 476-477.
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