35. Kassandra

[487] Deinem Los sein Klagen geweiht, Europa!

Aus dem Unheil schleudert in neues Schrecknis

Dich ein Gott stets; ewig umsonst erflehst du

Frieden und Freiheit!


Kaum versank allmählich, im trägen Zeitlauf,

Jener Zwingburg südlicher Bau zu Trümmern,

Wo des Weltherrn Zepter dem Inquisitor

Schürte den Holzstoß:


Sieh, da keimt schon, unter dem Hauch des Nordpols,

Frischen Unheils wuchernder Same leis auf:

Hoch als Giftbaum ragt in die Luft bereits dies

Riesige Scheusal!


Selbst dem Beil fruchtloser Begeisterung trotzt

Dieser Stamm, der Alles erdrückt, und keiner

Wolke, weh uns, rettender Blitz zerschmettert

Wipfel und Ast ihm!


Ketten dräun, wie nie sie geklirrt, der Menschheit

Bangen Hals zuschnürend, und parrizidisch

Reiht im Wettlauf mächtiger Ungeheur sich

Frevler an Frevler!


Noch einmal, wie's kündet die alte Fabel,

Überm Haus blutgieriger Tantaliden

Sein Gespann rückwärts mit Entsetzen lenkend,

Schaudert Apollo!


Zwar der Hahn kräht; aber er weckt die Welt nicht!

Selbst des Einhorns Stachel vielleicht zersplittert:

Adler Deutschlands, doppelter, kreise wachsam,

Schärfe die Klaun dir!

Quelle:
August Graf von Platen: Werke in zwei Bänden. Band 1: Lyrik. München 1982, S. 487-488.
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