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[40] Als Gyrmantis eines Morgens erwachte, war die Rose ganz offen, und wie sie näher hinzutrat, siehe, da lag ein holdseliges Knäblein in der Mitte. Sie nahm es heraus und küßte es und wiegte es in ihren weichen Armen. Die Blätter der Rose aber fielen schnell ab, und nur der Stengel blieb im Wasser stehen. Da gedachte sie des Briefes, den ihr der Zwerg gegeben hatte. Sie holte ihn und las:
»Den Knaben, der aus dieser Rose entstehen wird, den wahret wohl und ziehet ihn groß. Wenn er aber erwachsen ist, da laßt ihn die Rüstung anziehen, die in Eurem Garten unter der großen Linde vergraben ist. Dann soll er ausziehen und sich eine Braut suchen. Damit er aber erkenne, welche ihm bestimmt sei, so hört, was Ihr zu tun habt. Wenn Ihr ihn ausziehen heißt aus Eurer Wohnung, so gebt ihm mit den abgedorrten Rosenstengel, aus dem entsprossen ist. So er aber diejenige sieht, die er liebt und die ihm ihre holdselige Hand will geben, so mag er ihr den Stengel überreichen. Wenn sie ihn berührt hat und es sproßt daraus eine Rose hervor, so ist es die Jungfrau, die er ehelichen soll. Bleibt der Stengel dürr, so soll er fliehen und nie wiedersehen die Geliebte des Herzens. Diesen Knaben aber mögt Ihr Rosensohn nennen, denn dieser Name ziemt ihm. Lebet wohl, schöne Frau, und gedenket meiner, den Ihr vielleicht nie mehr sehen werdet.«[40]
Gyrmantis aber erstaunte sehr, als sie diesen Brief gelesen hatte. Das Zwerglein kam nicht mehr, wie es gesagt hatte. Den Knaben aber zog sie mit Sorgfalt groß, und er ward ein schöner Jüngling, stattlich und schlank wie die Tanne des Waldes, mit blonden Haaren und schwarzen Augen. Und als er nun achtzehn Jahre hatte, da gab sie ihm den Brief, und er grub sich die Rüstung aus und tat sie an. Da glaubte Gyrmantis ihren Gemahl wieder zu sehen, so stattlich war er. Und er nahm zärtlichen Abschied von ihr und eilte davon.
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Rosensohn
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