Viertes Kapitel.

[41] Nach einigen Stunde kam er an das Ende des Waldes, in welchem das Schloß der Gyrmantis gelegen war. Da sah er denn einen hohen Turm, der ihm ein Aufenthalt von Gefangenen zu sein schien. Bald hörte er auch die Stimme eines Mannes, der ein Klagelied anhub in gar schmerzlichen Tönen. Da blieb er stehen und rief: »Wer bist du? Wie lange wohnst du in diesem Kerker?«

»Ich bin unglücklich,« erwiderte die Stimme, »und schon achtzehn Jahre harre ich auf meinen Erlöser.« »Kann ich dich befreien?« fragte Rosensohn. »Nein,« sagte die Stimme, »ein Zauber hält mich hier fest. Aber wer bist du denn, junger Fremdling, der meiner sich annimmt?« »Rosensohn nannte mich die Pflegerin meiner Jugend.« »O sei mir dreimal gesegnet,« erhielt er zur Antwort, »du bist aus fürstlichem Geblüte, eine Königin hat dich geboren!« »Ja, die Königin der Blumen,« erwiderte der Zögling der Gyrmantis. »Eine Rose ist meine Mutter und ein geheimnisvoller Brief mein ganzes Erbteil. Er befiehlt mir eine Braut zu suchen, aber ich bin einsam im Wald erzogen, ich kenne niemand. Möchtest du mir ein edles Fräulein nennen, das holdselig wäre und gut, zu der ich gehen könnte und werben und sehen, ob sie mir bestimmt sei.«

Und ohne sich zu besinnen, antwortete der Gefangene: »Wohl kann ich dir nennen ein edles Fräulein, das holdselig ist und auch gut, um das du werben kannst und sehen, ob sie dir bestimmt sei. Wandle nur geradeswegs, bis du an die Grenze kommen wirst des nachbarlichen Königreichs. Dort[41] laß dir aber die Straße zeigen nach der Hauptstadt. Denn der König hat eine Tochter, Lilla genannt, die die schönste ist von allen Prinzessinnen auf der Erde.« – Rosensohn dankte dem Unbekannten und ging munter des Weges. Da hörte er noch den Gesang aus dem Turme:


Zieh frisch davon

Über Berg und Wald,

Und kehre bald,

Du Rosensohn.

Dann eil' herbei,

Wenn du kommst zurück,

Und mach mein Glück,

Und mach mich frei.


Quelle:
August Graf von Platens sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 11, Leipzig [1910], S. 41-42.
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