|
Während einer Wanderung, die mich letzten Sommer durch einige Flußtäler der Grafschaft Neuyork führte, sah ich mich, als der Tag zur Neige ging, in gewisser Verlegenheit, welchen Weg ich einschlagen sollte. Das Land war auffallend hügelig, und in der letzten halben Stunde hatte mich der Pfad, bei meinem Bemühen, mich in den Tälern zu halten, so verwirrend um und rundum geführt, daß ich nicht mehr ahnte, in welcher Richtung das reizende Dorf B ... lag, wo ich die Nacht zu bleiben gedachte. Es hatte, genau genommen, den Tag über eigentlich keinen Sonnenschein gegeben, dennoch war es ungewöhnlich warm gewesen. Ein Nebelschleier, wie lauter Altweibersommer, verhängte alle Dinge und vermehrte natürlich meine Unsicherheit. Nicht daß ich die Sache sehr wichtig nahm. Sollte ich nicht vor Sonnenuntergang, selbst nicht vor Einbruch der Dunkelheit auf das Dorf stoßen, so war es doch mehr als wahrscheinlich, daß irgendein kleines Farmhaus oder dergleichen auftauchen würde, wenn auch die Gegend (vielleicht weil sie sich mehr malerisch als fruchtbar erwies) nur spärlich bewohnt war. Jedenfalls wäre ein Biwak im Freien, mit einem Rucksack als Kissen und meinem Jagdhund als Wächter, so recht nach meinem Geschmack gewesen. Ich schlenderte daher wohlgemut weiter und hatte meine Flinte Ponto[323] aufgeladen, als ich schließlich, da ich eben Betrachtungen darüber anstellte, ob die zahlreichen kleinen Lichtungen, die hier- und dorthin führten, überhaupt Pfade vorstellen sollten, auf dem verlockendsten von ihnen auf einen richtigen Fahrweg geriet. Jeder Irrtum war ausgeschlossen. Leichte Räderspuren waren sichtbar, und obgleich das hohe Strauchwerk und das aufgeschossene Unterholz sich oben zusammenschlossen, gab es am Boden nicht das geringste Hemmnis, selbst nicht für ein virginisches Berggefährt, meiner Meinung nach das anspruchsvollste, hochfahrendste Vehikel seiner Art. Abgesehen davon, daß der Weg frei in den Wald führte (wenn die Bezeichnung Wald nicht allzu wuchtig ist für dieses Beieinander lichter Bäume) und daß er deutliche Räderspuren aufwies, glich er auch nicht entfernt irgendeinem der Wege, die ich je gesehen hatte. Die besagten Spuren waren kaum wahrnehmbar auf einer Fläche, die eine lebhafte Ähnlichkeit mit grünem Genueser Samt besaß. Es war Gras, gewiß, aber Gras, wie wir es außer in England selten sehen, so kurz, so dicht, so eben und von so leuchtender Farbe. Nicht das geringste Hindernis fand sich in der Radspur, nicht einmal ein Span oder ein dürrer Zweig. Die Steine, die einst den Weg gehemmt hatten, waren zur Seite des Weges sorgsam niedergelegt, nicht geworfen worden, so daß sie den Rasen mit einer sozusagen nachlässigen Sorgsamkeit malerisch abgrenzten. Büsche wilder Blumen wuchsen in den Zwischenräumen in verschwenderischer Fülle.
Was ich aus alledem machen sollte, wußte ich natürlich nicht. Hierin lag unzweifelhaft Kunst. Das überraschte mich nicht; alle Wege sind im herkömmlichen Sinne Kunstwerke; auch kann ich nicht sagen, daß lediglich die Übertreibung des Künstlerischen so wundersam erschien;[324] alles, was hier geschehen war, mochte hier, wo soviel natürliche »Anlage« vorlag (wie man das in Büchern über Landschaftsgärtnerei findet) mit sehr wenig Arbeit und Ausgaben getan worden sein. Nein, es war nicht die Fülle, sondern der Charakter des Künstlerischen, was mich veranlaßte, mich auf einen der umblühten Steine niederzulassen und wohl eine halbe Stunde oder länger diese feenhafte Allee voll staunender Bewunderung hinauf und hinunter zu blicken. Eines wurde mir, je länger ich schaute, mehr und mehr deutlich: ein Künstler, und zwar ein Künstler mit außerordentlich scharfem Blick für Formen, hatte alle diese Anordnungen im voraus überlegt. Man war mit größter Sorgfalt bedacht gewesen, zwischen dem Hübschen und Anmutigen einerseits und dem »Pittoresken«, im wahren Sinne der italienischen Bezeichnung, andrerseits die rechte Mitte zu halten. Es gab wenig gerade und keine auf die Länge ungebrochenen Linien. Dasselbe Bild in Krümmung oder Farbe bot sich, soweit das Auge reichte, meist zweimal, doch nicht öfter. Überall in der Einförmigkeit war Abwechslung. Es war ein Stück »Komposition«, in der selbst der anspruchsvollste kritische Geschmack kaum eine Verbesserung hätte vorschlagen können.
Als ich diesen Weg betrat, hatte ich mich nach rechts gewandt, und nun erhob ich mich und verfolgte dieselbe Richtung. Der Pfad war so gewunden, daß ich seinen Lauf nie mehr als zwei, drei Schritte weit vor mir sah. Seine Anlage erfuhr nicht die geringste Wandlung.
Plötzlich traf das sanfte Murmeln eines Wassers mein Ohr, und einige Augenblicke später, als der Pfad mich noch überraschender als bisher um die Ecke führte, gewahrte ich, daß am Fuße eines dicht vor mir abfallenden[325] sanften Hanges irgendein Gebäude lag. Ich konnte aber infolge des Dunstschleiers, der das ganze kleine Tal drunten erfüllte, nichts deutlich erkennen. Jetzt erhob sich jedoch ein leichter Wind, denn die Sonne war am Untergehen, und während ich auf dem Hügelkamm stehen blieb, zerteilte sich der Nebel in krause Fetzen und flutete über die Szene.
Wie die Dinge so allmählich zum Vorschein kamen, Stück um Stück, hier ein Baum, da ein Wasserblinken und hier wieder ein Stück Schornstein, war mir nicht anders zumute, als sei das Ganze eines jener geschickten Trugbilder, wie sie zuweilen unter der Bezeichnung »Vexierbilder« dargeboten werden.
Mit der Zeit jedoch, als der Nebel sich völlig verzogen hatte, war auch die Sonne hinter die sanften Hänge hinabgesunken, kam nun aber, als habe sie ein leichtes »chassez« nach Süden gemacht, wieder in volle Sicht, indem sie in purpurnem Glanz durch eine Kluft im Westen des Tales hereinschimmerte. Plötzlich also und wie mit Zauberhand wurde dieses ganze Tal und alles, was darin war, strahlend sichtbar.
Der erste »coup d'œil«, als die Sonne in die angegebene Stellung glitt, machte mir einen ähnlichen Eindruck, wie ihn mir in meiner Knabenzeit das Schlußbild eines gut inszenierten Schauspiels oder Melodramas hervorrief. Nicht einmal die Ungeheuerlichkeit in der Farbengebung fehlte, denn die Sonne drang durch die Kluft in sattem Orangerot und Purpur, während das lebhafte Grün des Grases im Tal durch den Dunstschleier, der noch immer darüber schwebte, als widerstrebe ihm die Trennung von einem so zauberhaft schönen Bild, mehr oder weniger auf alle Dinge zurückgestrahlt wurde.[326]
Das kleine Tal, in das meine Blicke so unter der Nebelschicht hinabtauchten, konnte nicht mehr als vierhundert Meter Länge haben, die Breite wechselte von fünfzig zu hundertundfünfzig oder auch zweihundert Metern. An seinem Nordende war es außerordentlich schmal und verbreiterte sich, aber nicht gerade regelmäßig, nach Süden hin. Die größte Breite erreichte es ungefähr achtzig Meter vor dem südlichen Ende. Die Hänge, die das Tal umgaben, konnten nicht eigentlich Hügel genannt werden, höchstens an ihrer Nordseite. Hier erhob sich eine steile Felswand bis zu einer Höhe von neunzig Fuß und mehr, und wie ich schon sagte, war das Tal hier nicht breiter als fünfzig Meter. Wer sich aber von diesem Felsenriff nach Süden wandte, der fand zur Rechten und Linken Abhänge, die weniger hoch wie auch weniger steil und weniger felsig waren. Mit einem Wort, nach Süden hin wurde alles schräger und sanfter, und doch war das ganze Tal von mehr oder weniger hohen Erhebungen umgürtet, abgesehen von zwei Punkten. Von einem dieser Punkte habe ich schon gesprochen. Er lag gegen Nordwesten, und hier war es, wo die Sonne in der geschilderten Weise in das Amphitheater ihren Weg fand, durch eine sauber geschnittene, natürliche Kluft in der granitenen Umfassung. Dieser Einschnitt mochte an seiner breitesten Stelle zehn Meter betragen – soweit das Auge das zu schätzen vermochte. Er schien wie eine natürliche Chaussee sachte aufwärts zu führen, in die Gründe noch undurchforschter Berge und Wälder. Die andre Öffnung befand sich genau am südlichen Talende. Hier waren die Hügel im allgemeinen kaum mehr als sanfte Wellungen, die von Osten nach Westen in einer Breite von etwa hundertundfünfzig Metern verliefen. In der Mitte dieser Strecke lag eine[327] Senkung, die bis auf die Bodenhöhe des Tales herabging. Wie in allem andern, so bot die Szene auch hinsichtlich der Vegetation ein nach Süden hin niedrigeres und sanfteres Bild. Nach Norden, an dem steilen Felshang, erhoben sich nicht weit vom Gipfel die prächtigen Stämme vom weißen und schwarzen Walnußbaum, vom Kastanienbaum und vereinzelten Eichen, und die besonders von den Walnußbäumen streng wagerecht gebreiteten Äste sprangen weit über den Felsrand vor. Nach Süden fortschreitend, sah man zunächst dieselben Baumarten, nur weniger hochgewachsen und majestätisch; dann begegnete man der schlankeren Ulme, dem Sassafras und der Robinie – ihnen folgte die sanftere Linde, der Judasbaum, Trompetenbaum und Ahorn – und schließlich kamen noch anmutigere und bescheidenere Arten. Die ganze südliche Hügelwelle war nur mit wildem Strauchwerk bedeckt, bis auf ein paar vereinzelte Silberweiden und Silberpappeln. Drunten im Tale selbst (denn man muß beachten, daß die genannte Vegetation nur auf den Felsen oder Hügelwänden wuchs) sah man drei einzeln stehende Bäume. Der eine war eine Ulme von beträchtlicher Größe und herrlicher Gestalt; sie stand als Wächter am südlichen Eingang des Tales. Der zweite war ein Nußbaum, viel größer als die Ulme und alles in allem ein viel edlerer Baum, wenngleich beide ausnehmend schön waren. Er schien den nordwestlichen Zutritt zu bewachen, wie er da aus einer Felsengruppe seine vornehme Gestalt mitten in den offenen Rachen der Schlucht hinausreckte, in einem Winkel von fast fünfundvierzig Grad, weit hinaus in den Sonnenschein des Amphitheaters.
Etwa dreißig Meter östlich von diesem Baum stand jedoch der Stolz des Tales und ohne Frage der prächtigste[328] Baum, den ich je gesehen habe, ausgenommen vielleicht die Zypressen von Itchiatuckanee. Es war ein dreistämmiger Tulpenbaum – ein Liriodendron tulipiferum – eine der wilden Magnolienarten. Die drei Stämme trennten sich vom Mutterstamm in etwa drei Fuß Höhe, strebten nur ganz allmählich auseinander und waren dort, wo der breiteste Stamm Laub ansetzte, nicht mehr als vier Fuß auseinander. Das war in einer Höhe von ungefähr achtzig Fuß. Die ganze Höhe des Baumes betrug einhundertundzwanzig Fuß. Nichts kommt an Schönheit dem leuchtkräftigen Grün der Blätter des Tulpenbaumes gleich. Im gegenwärtigen Fall waren sie volle acht Zoll breit; ihre Pracht aber wurde übertroffen von dem schwellenden Prunk üppiger Blüten. Man stelle sich eine Million dicht zusammengedrängter, strahlendster Tulpen vor! Nur so kann sich der Leser eine Vorstellung von dem Bild machen, das ich ihm vermitteln möchte. Und dann die stolze Anmut der sauberen, zart gekerbten säulenartigen Stämme, deren größter zwanzig Fuß vom Boden einen Durchmesser von vier Fuß hatte. Die unzähligen Blüten erfüllten im Verein mit den Blüten andrer, kaum weniger schöner, allerdings weit weniger majestätischer Bäume das Tal mit Wohlgerüchen, die köstlicher waren als die Wohlgerüche Arabiens.
Der eigentliche Boden des Amphitheaters bestand aus Gras von derselben Beschaffenheit, wie ich es auf dem Weg gefunden hatte, höchstens noch weicher, üppiger und von einem noch wundervolleren, samtartigen Grün. Es war schwer zu fassen, wie all diese Schönheit erzielt werden konnte.
Ich habe von den zwei Öffnungen im Tal gesprochen; aus der ersten gen Nordwesten ergoß sich ein Bächlein,[329] das mit sanftem Murmeln und einigem Schäumen die Schlucht herunterkam, bis es gegen die Felsengruppe prallte, aus der der einzelstehende Walnußbaum aufschoß. Hier umkreiste es den Baum und wandte sich dann etwas nach Nordwesten, den Tulpenbaum einige zwanzig Fuß südlich lassend; nun veränderte es seinen Lauf nicht eher, als bis es etwa die Mitte zwischen der östlichen und westlichen Grenze des Tales erreicht hatte. An dieser Stelle bog es nach mehreren Krümmungen im rechten Winkel ab und verfolgte eine im allgemeinen südliche Richtung, bis es sich eilig in einem kleinen See von unregelmäßiger, aber ziemlich ovaler Form verlor, der schimmernd nahe am südlichen Talausgang lag. Dieser See hatte vielleicht an seiner breitesten Stelle hundert Meter Durchmesser. Kein Kristall konnte klarer sein als seine Wasser. Sein Grund, den man deutlich sehen konnte, bestand überall aus strahlendweißen Kieseln. Seine Ufer, von besagtem Smaragdgrün, rundeten sich in den klaren Himmel hinunter, und so klar war dieser Himmel, so vollkommen spiegelte er zuzeiten alle Gegenstände von oben, daß es schwer festzustellen war, wo das wirkliche Ufer aufhörte und das widergespiegelte begann. Die Forelle und einige andre Fischarten, von denen es im Weiher wimmelte, erweckten alle den Anschein von fliegenden Fischen. Es war schwer, nicht anzunehmen, daß sie einfach in der Luft hingen. Ein leichtes Birkenboot, das friedlich auf dem Wasser lag, wurde von dem so köstlich polierten Spiegel bis in seine feinsten Rippen mit unerhörter Treue wiedergegeben. Eine kleine Insel im heitern Schmuck vollerblühter Blumen und nur gerade groß genug, um ein malerisches kleines Bauwerk zu tragen, offenbar ein Wasservogelhaus, erhob sich im See, nicht weit von[330] seinem nördlichen Ufer – mit dem sie durch eine unbegreiflich zierlich wirkende und doch ganz primitive Brücke verbanden war. Sie bestand aus einer einzigen, breiten und dicken Planke aus Tulpenholz. Sie war vierzig Fuß lang und überspannte den Raum zwischen Ufer und Ufer in leichtem, doch gut wahrnehmbarem Bogen, der jede Schwankung ausschloß. Aus dem Südende des Sees ergoß sich wieder der Bach, der sich ungefähr dreißig Meter in Windungen ergötzte und dann schließlich durch die schon beschriebene Niederung in der Mitte der südlichen Hänge hindurchfloß und, in eine Tiefe von hundert Fuß hinuntertaumelnd, seinen vielfach gewundenen Weg zum Hudson nahm.
Der See war tief – an manchen Stellen bis zu dreißig Fuß, der Bach aber hatte selten mehr als drei, während seine größte Breite etwa acht betrug. Sein Bett und die Ufer glichen denen des Weihers – wenn etwas daran auszusetzen war, so war es dies, daß die malerische Wirkung vielleicht durch übertriebene Sauberkeit beeinträchtigt wurde.
Die Weite des grünen Feldes wurde gelegentlich durch einen Zierstrauch unterbrochen, wie Hortensie, Schneeball oder duftendes Jasmingesträuch; häufiger noch durch eine Geraniumgruppe, die in allen Varietäten üppig blühte. Diese Geranien standen in Töpfen, die sorgfältig in die Erde gegraben waren, um den Eindruck wildwachsender Pflanzen hervorzurufen. Überdies war der Wiesensamt anmutig von Schafen belebt, die als stattliche Herde das Tal durchstreiften, in Gesellschaft dreier zahmen Rehe und einer beträchtlichen Anzahl strahlendgefiederter Enten. Ein sehr großer Bullenbeißer schien all diesen Tieren, dem einzelnen wie[331] der Gesamtheit, eine wachsame Aufmerksamkeit zu widmen.
An den östlichen und westlichen Felsen – dort, wo die Begrenzung nach den höhergelegenen Teilen des Amphitheaters hin mehr oder weniger steil war – zog sich in verschwenderischer Fülle Efeu hin, so daß man nur hie und da ein Fleckchen nackten Fels hindurchschimmern sah. Der Westabhang war gleicherweise fast vollständig mit selten prächtigen Reben bedeckt, die zum Teil vom Fuße des Felsens aufstrebten, zum Teil am Hange selbst hervorwuchsen.
Die geringe Erhebung, aus der die untere Abgrenzung dieser kleinen Besitzung bestand, wurde von einer sauberen Steinmauer gekrönt, deren Höhe genügte, das Entweichen des Wildes zu verhindern. Nirgends sonst war eine Einfriedigung zu bemerken; denn nirgends sonst war ein künstlicher Abschluß nötig. Wollte zum Beispiel ein versprengtes Schaf versuchen, sich durch die Schlucht aus dem Tal zu entfernen, so würde es sein Vorwärtskommen nach wenigen Schritten durch den steilen Felsenvorsprung gehemmt sehen, über den der Wasserfall herabstürzte, der gleich, als ich mich der Ansiedlung näherte, meine Aufmerksamkeit erregt hatte. Kurz, der einzige Ein- und Ausgang bestand aus einem Tor, das einen Felspfad sperrte, wenige Schritte unterhalb der Stelle, auf der ich stehen blieb, um die Szene zu betrachten.
Ich habe geschildert, wie der Bach in seinem Laufe viele unregelmäßige Windungen machte. Seine beiden Hauptrichtungen liefen, wie ich sagte, zuerst von West nach Ost und dann von Norden nach Süden.
Da, wo der Wasserlauf den Bogen machte und wieder nach rückwärts lief, schloß er eine fast kreisrunde[332] Schlinge, so daß eine Halbinsel entstand, die beinahe eine Insel war. Auf dieser Halbinsel stand ein Wohnhaus – und wenn ich sage, daß dieses Haus, gleich der Höllenterrasse, die Vathek sah, »était d'une architecture inconnue dans les annales de la terre«, so meine ich lediglich, daß das Ganze mich durch seine Eigenart wie auch durch seine Zweckmäßigkeit ungemein verblüffte – mit einem Wort, durch »Poesie« – denn ich könnte kaum mit andern Bezeichnungen als den vorstehend gewählten eine genaue Definition für abstrakte Poesie geben – und ich meine nicht, daß das »outré« in irgendeiner Hinsicht bemerkenswert war.
In der Tat, nichts hätte wohl einfacher – unaufdringlicher wirken können als dieses Landhaus. Sein wundersamer Eindruck lag ausschließlich in seiner künstlerischen, bildhaften Anlage. Während ich hinsah, hätte ich mir vorstellen können, ein hochbedeutender Landschaftsmaler habe es mit seinem Pinsel geschaffen.
Der Aussichtspunkt, von dem aus ich das Tal zum ersten Male sah, war zur Betrachtung des Hauses nicht der beste, aber doch fast der beste Platz. Ich will es daher so beschreiben, wie es sich mir später bot – von dem Steinwall am Südende des Amphitheaters aus gesehen.
Das Hauptgebäude hatte eine Länge von ungefähr vierundzwanzig Fuß und eine Tiefe von sechzehn – sicher nicht mehr. Seine Gesamthöhe vom Boden bis zur Dachspitze konnte nicht mehr als achtzehn Fuß betragen. An der Westseite dieses Bauwerks war ein zweites angefügt, das in allen seinen Teilen etwa ein Drittel kleiner war: – seine Vorderseite stand etwa zwei Meter hinter der des größeren Hauses zurück, und sein Dach verlief natürlich[333] beträchtlich niedriger als das benachbarte. In rechtem Winkel zu diesen Gebäuden und am Ende des Hauptbaues – aber nicht genau in der Mitte – erstreckte sich ein dritter, sehr kleiner Bau – im ganzen ein Drittel kleiner als der westliche Flügel. Die Dächer der beiden größeren Bauten waren sehr steil – glitten in einer langen, konkaven Kurve vom First hernieder und griffen mindestens vier Fuß über die Frontmauern hinaus, so daß sie noch die Bedachung zweier Laubengänge bildeten. Als solche bedurften sie selbstredend keiner Stützen; da sie aber dem Anschein nach Stützen brauchten, so waren nur an den Ecken leichte und völlig glatte Säulen eingeschaltet worden. Das Dach des nördlichen Flügels war nur eine Verlängerung des Hauptdaches. Zwischen dem Hauptgebäude und dem westlichen Flügel erhob sich ein sehr hoher und ziemlich schlanker, viereckiger Schornstein aus harten schottischen Ziegeln, abwechselnd schwarzen und roten – mit einer schmalen Kranzleiste ausladender Ziegel am oberen Ende. Auch über die Giebel sprangen die Dächer sehr weit vor – am Hauptbau etwa vier Fuß nach Osten und zwei nach Westen. Die Eingangstür befand sich nicht genau in der Mitte, sondern etwas mehr östlich, während die beiden Fenster westlich davon lagen. Sie reichten nicht bis zur Erde, waren aber viel länger und schmaler als üblich – sie hatten einflügelige Fensterladen, die wie Türen aussahen – die Glasscheiben hatten Rautenform, aber von ziemlicher Größe. Die Tür selbst bestand in ihrem oberen Teil aus Glas, ebenfalls in Rautenform – durch einen beweglichen Schalter nachts verschließbar. Die Tür für den Westflügel befand sich in der Giebelseite und war sehr einfach – ein einziges Fenster wies hier nach Süden. Am Nordflügel gab es[334] keine Außentür, und er hatte auch nur ein Fenster nach Osten.
Die nackte Wand des östlichen Giebels wurde durch eine Treppe mit Geländer gehoben, die schräg daran emporlief – der Aufstieg begann von Süden. Unter dem Schutz des weit vorspringenden Dachbogens führten diese Stufen zu einer Dachkammer, mehr einem Bodenraum – denn er erhielt sein Licht nur durch ein einziges Fenster nach Norden und schien als Speicher gedacht zu sein.
Die Vorplätze des Hauptgebäudes und westlichen Flügels waren nicht, wie sonst üblich, gepflastert. Aber an den Türen und vor jedem Fenster lagen große, flache, unregelmäßige Granitplatten im herrlichen Grasteppich, die ein angenehmes Gehen bei jeder Witterung ermöglichten.
Prächtige Pfade aus dem gleichen Material – nicht zierlich ausgeführt, sondern von dem samtenen Grün unterbrochen, das in Abständen zwischen den Steinen hervorquoll, führten vom Hause hierhin und dorthin, zu einer kristallenen Quelle in fünf Schritt Entfernung, zu dem Weg oder ein paar Nebengebäuden, die hinter dem Bach nach Norden lagen und durch einige Akazien- und Trompetenbäume völlig verborgen wurden.
Nicht mehr als sechs Schritt vom Haupteingang des Landhauses erhob sich der tote Strunk eines phantastischen Birnbaumes, so ganz von Kopf zu Fuß in üppige Bignoniablüten gehüllt, daß es keine Kleinigkeit war, zu ergründen, woraus diese wunderschöne Sache eigentlich bestand. An verschiedenen Ästen dieses Baumes hingen Käfige aller Art. In einem großen, zylinderförmigen Weidengeflecht vergnügte sich ein Spottvogel, in einem[335] andern ein Pirol, in einem dritten die dreiste Reisammer – während aus drei bis vier zierlicheren Zellen der Gesang von Kanarienvögeln erschallte.
Die Pfeiler der Vorplätze waren von Jasmin und Geisblatt umrankt, und im Winkel, wo Hauptbau und Westflügel sich trafen, erhob sich ein Weinstock von unvergleichlicher Pracht. Alle Hindernisse nehmend, hatte er erst das tieferliegende Dach erklommen, dann das höhere, und am Rande des letzteren wand er sich weiter, nach rechts und nach links Ranken aussendend, bis er schließlich glücklich den Ostgiebel erreichte und sich die Treppe herunterwand.
Das ganze Haus samt seinen Flügeln war mit den altmodischen schottischen Schindeln, die breit und eckig sind, belegt. Es ist eine Eigenart dieses Materials, daß es die Häuser unten breiter als oben erscheinen läßt, gleich den ägyptischen Bauwerken, und hier wurde dieser außerordentlich malerische Eindruck durch zahlreiche Töpfe voll prächtiger Blumen unterstützt, die beinahe den gesamten Bau umringten.
Die Schindeln hatten einen mattgrauen Anstrich, und die glückliche Kontrastwirkung dieser neutralen Tönung zu dem lebhaften Grün der Blätter des Tulpenbaumes, der das Landhaus teilweise überschattete, wird jeder Künstler begreifen.
Von einem Platz am Steinwall aus war der Anblick der Gebäude am vorteilhaftesten, denn der südöstliche Flügel sprang vor, so daß das Auge gleichzeitig die beiden Fronten mit dem malerischen östlichen Giebel umfaßte und noch ein Stückchen vom Nordgiebel dazu, ferner etwa die Hälfte einer leichten Brücke, die sich in nächster Nähe des Hauptgebäudes über den Bach spannte.[336]
Ich blieb nicht sehr lange auf dem Hügelkamm, wenngleich lange genug, um das Bild zu meinen Füßen gründlich in mich aufzunehmen. Es war klar, daß ich vom Weg zum Dorf abgekommen war, und ich hatte daher die gute Berechtigung des Wanderers, das Tor vor mir zu öffnen und jedenfalls meinen Weg zu erfragen; so trat ich ohne viel Umstände näher.
Der Pfad schien hinter dem Tor einem natürlichen Felsensteig zu folgen und schlängelte sich allmählich an den nordöstlichen Klippen hinunter. Er führte mich an den Fuß des nördlichen Abhangs hinab und dann über die Brücke, um den östlichen Giebel herum zum Haupteingang. Dabei stellte ich fest, daß von den Nebengebäuden nichts zu sehen war.
Als ich um die Ecke der Giebelseite kam, lief der Bullenbeißerin Sätzen auf mich zu, stumm, aber mit dem Blick und dem Gebaren eines Tigers. Ich streckte ihm jedoch meine Hand hin, als Freundschaftszeichen, und ich habe noch keinen Hund gekannt, der solch einem Appell an seine Höflichkeit widerstanden hätte. Er schloß nicht nur den Rachen und wedelte mit dem Schwanz, sondern bot mir eindringlich die Pfote, um dann auch Ponto seine Begrüßung zu erweisen.
Da keine Klingel zu entdecken war, pochte ich mit dem Stock an die Tür, die halb offen stand. Sogleich näherte sich eine Gestalt – die eines jungen Weibes von ungefähr achtundzwanzig Jahren – schlank und etwas über Mittelgröße. Als sie mit einem gewissen nicht zu beschreibenden Schritt von bescheidener Entschiedenheit herantrat, sagte ich zu mir selbst: »Hier habe ich nun die Vollendung der natürlichen im Gegensatz zur künstlerischen Anmut gefunden.« Der zweite Eindruck, den sie in mir hervorrief,[337] der aber noch weit lebhafter war als der erste, war Begeisterung. Ein so intensiver Ausdruck von Romantik – so sollte ich es vielleicht nennen – oder von Unweltlichkeit, wie er aus ihren tiefliegenden Augen schimmerte, war mir nie vorher ins innerste Herz gedrungen. Ich weiß nicht, wie das ist, aber dieser besondere Ausdruck im Auge, der gelegentlich auch den Mund kräuselt, ist der mächtigste, wenn nicht der durchaus einzige Zauber, mit dem ein Weib mich fesseln kann. »Romantik« – vorausgesetzt, daß meine Leser begreifen, was ich hier mit dem Wort besagen will – »Romantik« und »Weiblichkeit« sind für mich dieselben Begriffe, und was schließlich der Mann im Weibe wirklich liebt, ist einfach ihre Weiblichkeit. Annies Augen (ich hörte, wie jemand von drinnen rief. »Annie, Liebes!") waren »geistvoll grau«, ihr Haar war ein lichtes Kastanienbraun; das war alles, was ich beobachten konnte.
Ihrer sehr artigen Einladung folgend, trat ich ein und durchschritt zunächst eine ziemlich weite Diele. Da ich hauptsächlich gekommen war, um zu beobachten, stellte ich fest, daß sich rechts von mir ein solches Fenster befand, wie sie von außen zu sehen gewesen waren, links eine Tür, die in das Hauptgemach führte, während gegenüber eine offene Tür mir Einblick in ein kleines Zimmer gestattete, das, von derselben Größe wie die Diele, als Arbeitszimmer eingerichtet war und ein großes Bogenfenster nach Norden hatte.
Ich trat ins Wohnzimmer und sah mich Mr. Landor gegenüber, denn so war, wie ich später erfuhr, sein Name. Er war höflich, ja kordial von Wesen, aber ich blieb eben jetzt eifriger bedacht, die Einrichtung des Hauses, das mich so ungemein interessierte, zu betrachten, als die persönliche Erscheinung des Besitzers.[338]
Der Nordflügel, den ich nun sah, bestand aus einem Schlafzimmer, dessen Tür in das Wohnzimmer führte. Den Boden bedeckte ein Teppich von prächtigem Gewebe: kleine, grüne, kreisende Figuren auf weißem Grunde. An den Fenstern befanden sich Vorhänge aus schneeweißem Jakonettmusselin; sie waren ziemlich schwer und hingen genau, vielleicht etwas steif, in strengen, gleichmäßigen Falten bis auf den Boden – genau bis auf den Boden. Die Wände waren mit einer sehr zarten französischen Tapete bekleidet, auf deren silbernem Grund ein blaßgrüner Faden in Zickzacklinien hindurchlief. Sie wurde in ihrer ganzen Ausdehnung nur von drei kostbaren Lithographien Juliens »à trois crayons« unterbrochen, die ungerahmt an der Wand befestigt waren. Eine der Zeichnungen war eine Szene voll orientalischer Pracht oder besser Üppigkeit, eine andere ein Karnevalsbild, unvergleichlich geistvoll, die dritte bot den Kopf einer Griechin: ein so göttlich schönes und dabei so herausfordernd unentschiedenes Antlitz hatte ich nie vorher gesehen.
Die gegenständliche Einrichtung bestand aus einem runden Tisch, ein paar Stühlen (darunter ein großer Schaukelstuhl) und einem Sofa oder besser einem »Kanapee«; es war aus glattem, gelblich-weiß lackiertem Ahornholz mit zarten, grünen Streifen, der Sitz war Rohrgeflecht. Die Stühle und der Tisch »paßten« dazu, aber ganz offenbar war die Form eines jeden Gegenstandes von demselben Kopf entworfen, der »die Landschaft« angelegt hatte – man kann sich nichts Anmutigeres denken.
Auf dem Tisch lagen ein paar Bücher, stand eine große, eckige Kristallflasche mit einem eigenartigen Parfüm, eine Astral- (nicht Solar-) Lampe aus glattem Milchglas mit einer italienischen Glocke und eine große Vase strahlend[339] blühender Blumen. Blumen in verschwenderischer Farbenpracht und zarten Düften bildeten tatsächlich den einzigen Schmuck des Zimmers. Der Kamin war fast ausgefüllt von einer Vase mit leuchtenden Geranien. Ein dreieckiges Wandbrett in jeder Zimmerecke trug je eine ähnliche Vase, nur ihr lieblicher Inhalt wechselte. Ein paar kleinere Sträuße zierten den Kaminsims, und späte Veilchen umdrängten die offenen Fenster.
Es liegt nicht in der Absicht dieser Erzählung, mehr zu geben als eine eingehende Schilderung von Mr. Landors Wohnsitz, wie ich ihn fand.
Buchempfehlung
Diese Ausgabe fasst die vier lyrischen Sammelausgaben zu Lebzeiten, »Gedichte« (1841), »Neue Gedichte« (1850), »Lyrisches und Episches« (1855) und »Neueste Gedichte« (1870) zusammen. »Letzte Gedichte« (1895) aus dem Nachlaß vervollständigen diese Sammlung.
278 Seiten, 13.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.
432 Seiten, 19.80 Euro