Annabel Lee

[137] Ist ein Königreich an des Meeres Strand,

Da war es, da lebte sie –

Lang, lang ist es her – und sie sei euch genannt

Mit dem Namen Annabel Lee.

Und ihr Leben und Denken war ganz gebannt

In Liebe – und mich liebte sie.


In dem Königreich an des Meeres Strand

Ein Kind noch war ich und war sie,

Doch wir liebten mit Liebe, die mehr war denn dies –

Ich und meine Annabel Lee

Mit Liebe, daß strahlende Seraphim

Begehrten mich und sie.


Und das war der Grund, daß vor Jahren und Jahr

Eine Wolke Winde spie,

Die frostig durchfuhren am Meeresstrand

Meine schöne Annabel Lee;

Und ihre hochedele Sippe kam,

Und ach! man entführte mir sie,

Um sie einzuschließen in Gruft und Grab,

Meine schöne Annabel Lee.


Die Engel, nicht halb so glücklich als wir,

Waren neidisch auf mich und auf sie –

Ja! das war der Grund (und alle im Land

Sie wissen, vergessen es nie),

Daß der Nachtwind so rauh aus der Wolke fuhr

Und mordete Annabel Lee.


Weit stärker doch war unsre Liebe als die

All derer, die älter als wir –

Und mancher, die weiser als wir –[137]

Und die Engel in Höhen vermögen es nie

Und die Teufel in Tiefen nie,

Nie können sie trennen die Seelen von mir

Und der schönen Annabel Lee.


Kein Mondenlicht blinkt, das nicht Träume mir bringt

Von der schönen Annabel Lee,

Jedes Sternlein das steigt, hell die Augen mir zeigt

Meiner schönen Annabel Lee;

Und so jede Nacht lieg zur Seite ich sacht

Meinem Lieb, meinem Leben in bräutlicher Pracht:

Im Grabe da küsse ich sie –

Im Grabe da küsse ich sie.

Quelle:
Edgar Allan Poes Werke. Gesamtausgabe der Dichtungen und Erzählungen, Band 1: Gedichte, Herausgegeben von Theodor Etzel, Berlin: Propyläen-Verlag, [1922], S. 137-138.
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