Die Stadt im Meer

[57] Weh! wunderliche, einsame Stadt,

Drin Tod seinen Thron errichtet hat,

Tief unter des Westens düsterer Glut,

Wo Sünde bei Güte, wo Schlecht bei Gut

In letzter ewiger Ruhe ruht.

An Schlössern, Altären und Türmen hat

(Zerfreßnen Türmen, die nicht beben!)

Nichts Gleiches eine unsrige Stadt.

Von Winden vergessen, die wühlen und heben,

Stehn unterm Himmel die Wasser ringsum,

Schwermütige Wasser, ergeben und stumm.


Kein Strahlen vom Himmel kommt herab

Auf jener Stadt langnächtiges Grab.

Doch steigt ein Licht aus dem Meere herauf,

Strömt schweigend an kühnen Zinnen hinauf,

Hinauf an Türmen bis zum Knauf,

Hinauf an Palästen, an Zitadellen,

An Tempeln hinauf und an Babylonwällen,

Hinauf an vergessenen Laubengängen

Mit eingemeißelten Fruchtgehängen,

Hinauf an manchem Opferstein,

Auf dessen Friesen zu engem Verein

Verflochten Viola, Violen und Wein.


Stehn unterm Himmel die Wasser ringsum,

Schwermütige Wasser, ergeben und stumm.

Die Mauern und Schatten wie Nebelduft –

Es scheint, als hänge alles in Luft.

Vom Turm, der herrschend ragt und droht,

Schaut riesenhaft herab der Tod.
[58]

Geöffnete Tempel und Totengrüfte

Gähnen auf leuchtende Meeresschlüfte.

Doch nicht die blitzenden Juwelen

In goldner Götzen Augenhöhlen

Und nicht der reiche Tod verführen

Die starren Wasser, sich zu rühren:

Kein kleinstes Wellchen kommt in Gang

Die gläserne Einöde entlang;

Kein Kräuseln erinnert, daß weniger leer

Von Wind ist irgendein anderes Meer,

Nichts sagt, daß je ein Wehen war

Auf Meeren, die weniger grauenhaft klar.


Doch, oh – es regt sich leis wie Wind!

Ein Wellen durch das Wasser rinnt –

Als ob die Türme im sachten Sinken

Die Flut verschöben zur Rechten und Linken –

Als ob schon die Spitzen inmitten des blassen

Himmels Lücken zurückgelassen.

Ein roteres Glimmen steigt heran –

Die Stunden halten den Atem an –

Und wenn die Stadt hinab, hinab

Von hinnen sinkt mit unirdischem Stöhnen,

Wird ihr von eintausend Thronen herab

Der Gruß der Hölle tönen.

Quelle:
Edgar Allan Poes Werke. Gesamtausgabe der Dichtungen und Erzählungen, Band 1: Gedichte, Herausgegeben von Theodor Etzel, Berlin: Propyläen-Verlag, [1922], S. 57-59.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
Der Rabe. 7 Geschichten und 3 Gedichte um Liebe und Tod.
Gedichte / Poems. Vollständige zweisprachige Ausgabe.
Der Rabe und andere Gedichte
Das Werk.: Gedichte, Essays, Erzählungen und der Roman

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Flucht in die Finsternis

Flucht in die Finsternis

Robert ist krank und hält seinen gesunden Bruder für wahnsinnig. Die tragische Geschichte um Geisteskrankheit und Tod entstand 1917 unter dem Titel »Wahn« und trägt autobiografische Züge, die das schwierige Verhältnis Schnitzlers zu seinem Bruder Julius reflektieren. »Einer von uns beiden mußte ins Dunkel.«

74 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon