XXXII

[439] Er aber sträubt sich, will nicht weichen,

Dann eben noch zum Tod bereit.

Auch jetzt von ihr kein Mitleidszeichen

(So hart ist oft die Weiblichkeit!).

Jedoch sein Starrsinn kann's nicht fassen,

Will nicht die Hoffnung sinken lassen,

Und dreist in kranker Leidenschaft

Entschließt er sich mit letzter Kraft,

Sein Herz ihr brieflich auszuschütten,

Obschon er sonst doch, wie bekannt,

Das Schreiben dumm und zwecklos fand;

Allein die Qual, die er gelitten,

Der Liebeswahnsinn riß ihn fort.

Hier steht's zu lesen, Wort für Wort:


Onegins Brief an Tatjana

»Ich weiß im voraus: dieser Brief

Voll bittren Wehleids wird Sie kränken.[439]

Sie werden niedrig von mir denken

Und zürnen – ach, ich fühl' es tief!

Was will ich auch? Wie darf ich wagen,

Den Schrein des Busens unbedacht

Hier aufzuschließen, statt zu fragen,

Wie sehr mich dies verächtlich macht!


Einst führte Zufall uns zusammen.

Ich sah Ihr Herz in keuschen Flammen

Für mich erglühn – und trat zurück,

Zu kühl, um Wünschen nachzugeben.

Ich wollte frei sein – eitles Streben! –

Und schlug es aus, das holde Glück.


Dann hat noch eines uns geschieden:

Freund Lenski starb durch meine Hand ...

Da hab' ich ohne Ruh' und Frieden

Mein Herz von allem, was mich band

Und was mir lieb war, losgerissen.

Nun sollte Freiheit, wie zum Spott,

Mir Glück ersetzen ... Großer Gott,

Wie furchtbar hab' ich büßen müssen!


Nein: immerwährend um Sie sein,

Beständig Ihren Reiz vor Augen,

Ihr Lächeln, Ihrer Anmut Schein

Mit heißer Inbrunst in sich saugen,

Durchdrungen sein von Ihrem Wert,

Zu Ihren Füßen niedergleiten

Und wunden Herzens, qualverzehrt

Erlöschen – das sind Seligkeiten![440]

Und mir versagt ... Auf Ihrer Spur

Zieh' ich wie blind umher und leide;

Mein Leben zählt nach Tagen nur,

Und ich verschwende noch, vergeude

Der flücht'gen Stunden kurze Frist,

Die schon an sich bloß Trübsal ist.

Drum muß, so hilflos ich verderbe,

Soll nicht zu früh mein Hauch vergehn,

Mir jeder Morgen, eh ich sterbe,

Gewißheit schenken, Sie zu sehn ...


Nur bangt mir, daß in meinen Klagen

Ihr Unmut schnöde List entdeckt,

Mein leiser Wunsch Ihr Mißbehagen,

Mein Seufzer Ihren Zorn erweckt!


O könnten Sie die Pein empfinden,

Wenn man, nach Liebe sehnsuchtsvoll

Verlangend, mit Verstandesgründen

Das heiße Blut beschwicht'gen soll –

Wenn Ihre Knie man umfassen,

Aufschluchzen möchte, allem Leid

In Tränen freien Lauf zu lassen,

Zu stammeln, was im Herzen schreit –

Und doch der strengen Form sich schicken

Und martern muß, in leichtem Ton

Zu plaudern, ja – zu allem Hohn –

Sie höflich lächelnd anzublicken! ...

Wohlan denn, sei es drum: mir schwand

Die letzte Kraft zu widerstreben;

An Ihrem Urteil hängt mein Leben,

Mein Schicksal ruht in Ihrer Hand!«
[441]

Quelle:
Puschkin, Alexander Sergejewitsch: Eugen Onegin. In: Gedichte, Poeme, Eugen Onegin, Berlin 1947, S. 439-442.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der grüne Kakadu. Groteske in einem Akt

Der grüne Kakadu. Groteske in einem Akt

In Paris ergötzt sich am 14. Juli 1789 ein adeliges Publikum an einer primitiven Schaupielinszenierung, die ihm suggeriert, »unter dem gefährlichsten Gesindel von Paris zu sitzen«. Als der reale Aufruhr der Revolution die Straßen von Paris erfasst, verschwimmen die Grenzen zwischen Spiel und Wirklichkeit. Für Schnitzler ungewöhnlich montiert der Autor im »grünen Kakadu« die Ebenen von Illusion und Wiklichkeit vor einer historischen Kulisse.

38 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon