[Als mein Seelchen schied]

[34] Als mein Seelchen schied,

Sollte sich erheben

Sanft ein Engellied,

Das es lehrte schweben,

Fliegen in den Wind.


Doch ein wilder Sturm

War die Nacht unbändig,

Selbst der alte Thurm

Wollte wie lebendig

Fliegen in den Wind.


Das ist wohl ein Hauch

Für des Aaren Schwinge;

Wird es glücken auch

Einem Schmetterlinge,

Fliegen in den Wind?


Rauhe Winterluft,

Schone, schonungslose!

Du verwehst den Duft,

Soll die schöne Rose

Fliegen in den Wind?
[34]

Doch als wie der Blitz

Fährt im Sturm hernieder,

Wird zum hohen Sitz

Auch der Funke wieder

Fliegen in den Wind.


Selber flög' ich gern,

Und das ist ein Wetter,

Daß ein Mensch auch lern'

Als wie dürre Blätter

Fliegen in den Wind.


Nicht nur Sand und Staub,

Sondern Kies und Steine,

Nicht nur welkes Laub,

Sondern ganze Haine

Fliegen in den Wind.


Doch nicht obenaus

Kann ich Flügel schlagen,

Wie der Vogel Strauß

Nur mir selbst entjagen,

Fliegen in den Wind.


Auch die Sehnsucht nicht

Kann sich dorthin heben,

Wo du schwebst im Licht,

Und so muß das Leben

Fliegen in den Wind.

Quelle:
Friedrich Rückert: Kindertodtenlieder aus seinem Nachlasse, Frankfurt a.M. 1872, S. 34-35.
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