[Sprechen muß ich immerdar]

[128] Sprechen muß ich immerdar:

Ach, das ist nicht! ach, das was war!


In ein Bild versenk' ich mich

Mit Gedanken lieb und traut,

So darein verdenk' ich mich,

Bis es lebend an mich schaut.

Doch den Zauber stört ein Laut,

Und es wird mir plötzlich klar:

Ach, das ist nicht! ach, das war!


Wenn ich in den Garten geh',

Den der Morgen frischgeweint,

Und ein paar von Rosen seh',

Das mich anzulächeln scheint,

Hab' ich mich beglückt gemeint,

Doch es tönt im Rosenpaar:

Ach, das ist nicht! ach, das war!


Neulich führte mich ein Traum

Durch das allerschönste Land,

Durch den hellsten Himmelsraum,

Und an zweier Engel Hand,

Welches Glück mein Herz empfand!

Und vergessen hatt' ich gar:

Ach, das ist nicht! ach, das war!
[129]

Wie nach ihrem Angesicht

Sich das meine wendete,

Kannt' ich sie und wieder nicht,

Weil ihr Licht mich blendete.

O wie trüb' es endete!

Selbst im Traume sprach ich klar:

Ach, das ist nicht! ach, das war!


Wenn mir in den Traum hinein

Das Bewußtsein vom Verlust

Folgt und so zerstört den Schein;

Kann ich wachend, mein bewußt,

Hoffen einer Täuschung Lust?

Sprechen muß ich immerdar:

Ach, das ist nicht! ach, das war!

Quelle:
Friedrich Rückert: Kindertodtenlieder aus seinem Nachlasse, Frankfurt a.M. 1872, S. 128-130.
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