[Musen, meine Freundinnen]

[11] Musen, meine Freundinnen,

Oft schon in betrübten Lagen

Brachtet ihr mir Trost ins Haus,

Nie doch wie in diesen Tagen,[11]

Als die lieben Kinder mir

An der Seuche niederlagen,

Deren Todesfunken so

Leicht ansteckend weiter schlagen,

Freunde viel und Freundinnen

Zählt' ich sonst mit Wohlbehagen

In der Stadt, die gegen mich

Jeder zarten Sorgfalt pflagen;

Doch für eigne Kinder jetzt

Hatten Sorge sie zu tragen,

Keiner durfte einen Schritt

In mein Haus zu setzen wagen,

Aus gerechter Furcht, das Gift

In sein eignes Haus zu tragen.

Keiner kam, um meinem Tod

Oder Leben nachzufragen.

Keiner, um aus Freundes Mund

Mir ein Trostwort anzutragen

Und mit mir zu klagen, als

Lag mein Liebstes auf dem Schragen:

Ihr nur, meine Freundinnen,

Ließet nicht in Furcht euch jagen;

Denn ihr wisset, Himmlische,

In die Flucht die Furcht zu schlagen,

Und Ansteckung droht euch nicht;

Darum dürft ihr mit mir klagen,

Krankenwärterinnen sein,

Und die Küchenschürze tragen.[12]

Und solang' ihr bei mir seid,

Wird mein Herz nicht ganz verzagen,

Und solang' ihr tragen helft,

Trag' ich muthig alle Plagen.

Drum vor allen Freundinnen,

Ohne eine zu verklagen,

Weil sie sterblich, hab' ich Dank

Euch, Unsterbliche, zu sagen.

Quelle:
Friedrich Rückert: Kindertodtenlieder aus seinem Nachlasse, Frankfurt a.M. 1872, S. 11-13.
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