Vogeldeuterei

[256] Zur Mauer, hinter der ich wohne,

Dringt aus der Stadt kein Glockenschlag;

Doch Sänger von verschiednem Tone

Erwecken mich zu jedem Tag.


Und jedes Tags Geschick erkenn' ich

Aus seines Barden Wecketon,

Und meine Tage längst benenn' ich

Nach Glücks- und Unglücksvögeln schon.


Wenn schmetternd wach mich singt die Lerche,

Schwing' ich mich mutig himmelan,

Weg über Hütten, Herden, Pferche,

Durch Gottes weiten Schöpfungsplan.


Wenn zwitschernd überm Nest am Dache

Die Schwalbe mir den Schlummer kürzt,

Wird vom Gemach und Ungemache

Der Häuslichkeit mein Tag gewürzt.


Die Nachtigall mag hier nicht brüten,

Doch manchmal grüßt sie mich im Traum,

Sie bringt mir abgefallne Blüten

Vom Jugendliebelebensbaum.


Dagegen ist von lauten Spatzen

An meiner Mau'r ein Überfluß;

Sie deuten mir, daß ich verschwatzen

Des Tages beste Stunden muß.


Ach hätt' ich nur wie andre Sachsen

Recht am Docieren eine Lust!

Doch wie der Schnabel mir gewachsen,

Kann ich ihn so nicht brauchen just.
[257]

Und immer hab' ich diese Klage

Zu hauchen in den Morgenwind,

Wozu die läst'gen Spatzentage

Im Nachtigallenleben sind.


Quelle:
Friedrich Rückert: Werke, Band 1, Leipzig und Wien [1897], S. 256-258.
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