Die Kerze

[348] Wie die Kerze

Treu am Bette aller Schönen wach' ich;

Wie die Kerze

Jedem trunknen Nachtgelage lach' ich.


Wie die Kerze

Muß ich, mich verzehrend, Flammen saugen,

Und vor Schmerze

Kommt kein Schlaf bei Nacht mir in die Augen.


Wie die Kerze

Wein' ich still, wenn ich zu lachen scheine,

Und ich scherze

Lachend, wenn ihr glaubet, daß ich weine.


Wie die Kerze

Leuchtet in das Aug' der Welt mein Namen,

Seit im Scherze

Mich zwei Augen zu entflammen kamen.


Wie die Kerze

Will ich alle Welt in Flammen setzen,

Daß die Schwärze

Deines Aug's sich mög' am Brand ergetzen.
[348]

Wie die Kerze

Leuchtet mir dein Bild durch Grames Nächte;

O entschwärze

Mein Geschick durch deines Lichtes Mächte!


Wie die Kerze

Ist der Felsen der Geduld geschmolzen,

Weil die Erze

Deines Busens trotzen allen Bolzen.


Wie die Kerze

Ist Hafis in Liebesglut zerstoben,

Freimunds Herze

Hat die hellen Funken aufgehoben.


Quelle:
Friedrich Rückert: Werke, Band 1, Leipzig und Wien [1897], S. 348-349.
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