Neuntes Kapitel.

[70] Wenn nun Monsieur Thedel von Münchhausen aus dem Bevernschen sich noch bei Nacht im wilden Weserwalde zurecht zu finden wußte, so hätte ihn eine doppelte ägyptische Finsternis nicht gehindert, irgend ein Ziel tief unten im Gewölbe oder hoch oben auf dem Dache von Amelungsborn ohne Anstoß zu erreichen. Der wußte da Bescheid! Wahrhaftig!! Er schlupfte in dasselbe türlose, mittelalterliche Pförtchen, in welches Magister Buchius sich nach der Heimkehr von seinem Nachmittags- und Abendspaziergang hineingeschoben hatte. Er erstieg dieselben Treppen wie der Magister und durchmaß dieselben Gänge. Er hielt sogar vor den nämlichen Türen an, wie der alte Herr; aber durchaus nicht mit den Gefühlen desselben. Wahrlich legte er nicht wehmütig-erinnerungsvoll die Hand darauf; doch die Hand brauchte er freilich bei dem Gestus, den er vor mehr als einer der altersschwarzen, stillen Schulzimmerpforten machte.

Das gab dann jedesmal einen klatschenden Schall, der das Echo weithin in den Korridoren weckte. Und jedesmal brummte der junge Malemeritus von Amelungsborn und Relegatus von Holzminden:

»Sauberer Stall! Infames Kaschott! Noch derselbige Geruch – pfui Teufel – Brrr! Na, euch gönne ich schon noch ein halb Dutzend Male dem Broglio und seinen Schuften zum Quartier.«[71]

Er bezwang sich merkwürdig. Er trat weder die Pforte der Sekunda noch die der Prima ein; und vor der Tür der Quinta stieg auch ihm doch sogar ein melancholisch Gefühl auf, und mit einem Seufzer sagte er:

»Der alte Herr! Der alte Buchius! ... Dahinter haben sie ihn sein ganzes liebes Leben ihnen und uns Lümmeln zum Spaß gehalten! Und ich habe meinen Spaß mit an ihm gehabt.«

Er hob den Hut vom Kopfe und behielt ihn in der Hand.

»Vivat der Magister Buchius, und – der Herrgott erlasse mir meine Sünden an ihm, wie der Alte sie mir zu hunderttausend Malen erlassen hat. Ach Gott, ach Gott, so kommt der tollste Schüler von Amelungsborn zu dem überflüssigsten, bespotteten Präzeptor, so kommt Bartel vom Mostholen mit zerbrochenem Kruge. O virga, o ferula! O merces doctrinae! Hoffentlich hat er jetzo, nachdem auch das andere Hundepack wieder still geworden ist, sein Licht noch nicht ausgeblasen.«

Im nächsten Augenblicke klopfte er leise und schüchtern an die Tür des letzten wirklichen Cisterciensers von Kloster Amelungsborn. Mit dem Wort meinen wir aber nicht den Bruder Philemon, den letzten katholischen Mönch der Stiftung auf dem Auerberge über dem Hooptale. –

Magister Buchius war noch wach; aber er saß freilich schon mit gelösten Hosenschnallen auf seinem Bettrande. Die Spukgeschichten, in die er sich nach des Tages Erlebnissen hineingelesen hatte beim bänglichen Tagesschluß, hatten ihn doch noch eine Weile vom völligen Entkleiden ab- und beim Hinstarren in die trübe Flamme seiner Lampe festgehalten. Als es nun so pochte, wie es auch beim Schloßprediger von Iburg, Herrn Theodorus Kampf, hie und da zu mitternächtlicher Stunde geklopft hatte, vermochte er trotz der überlegenen Stimmung, in der wir ihn vorher gelassen haben, nicht, seines Erschreckens sogleich Meister zu werden. Sein schlimmster Discipulus[72] hatte einzutreten, ohne daß er vorher dazu eingeladen worden war.

»Ich bin es, Domine,« sagte der jetzt, mit verlegenem Grinsen. »Ich bitte um Permission, so späte am Abend den Herrn Magister noch aufzustören. Thedel Münchhausen, mein Herr Magister! Von Holzminden her mit übergroßer Sehnsucht nach Ihm! Vivat Ferdinandus Dux!«

»Krah!« sagte der Rabe, durch den neuen Besuch in seinem Schlaf gestört.

»Ohe, was haben der Herr Magister da für einen neuen Stubenkameraden? ... Ich bin's wirklich noch einmal in Fleisch und Blut, Thedel Münchhausen! Ja, sieh mich nur so an, Bestie. Gehörst wohl auch zu denen, die heute abend mit mir zu Scharen von der Weser kamen?«

Die letzten Worte waren natürlich an den aus seinem Winkel vorgehüpften Vogel gerichtet; der Magister sah noch eine geraume Weile von dem einen Gast auf den andern, bis er sich so weit gefaßt hatte, die schwarzen Manschesternen wieder in die Höhe zu ziehen, sie zurecht zu rücken und zu rufen:

»Täuschet mich mein Gesicht nicht? Er, Musjeh? Monsieur von Münchhausen? Um diese mitternächtige Stunde? Wie kommet Er hieher, Musjeh? Wo kommet Er her, Musjeh? Was will Er – grade Er wieder in Amelungsborn? O ihr Götter, hat Er grade es nicht mit dem allerhöchsten Überdruß an christlicher und heidnischer Schulzucht und Ordnung verlassen? Hat der Herr Amtmann nicht –«

»Dreimal drei Kreuze hinter der ärgsten Kanaille im ganzen Cötus her gemacht? Jawohl, Domine, einen feinen Duft haben wir hinter uns gelassen; aber Sie wissen es ja am besten: Ducunt volentem fata –«

»Nolentem trahunt«, schloß der alte Herr. »Also wollend – mit Seinem guten Willen folgt Er Seinem Fatum hieher?«

»Gutwillig, mit meinem allerbesten Willen. Abgesehen von[73] dem Tritt, den sie mir in Holzminden auf die Posteriora versetzet hatten, meinen Weg in die weite Welt zu befördern. Der Herr Magister Buchius haben es niemals genau gewußt, was für – ein guter Prophete Sie zu Zeiten waren.«

»Oh, oh – eheu, eheu, eheu!«

»Heu, heu, heu – Heu!« flennte grinsend mit den Knöcheln beider Fäuste vor den Augen der junge Taugenichts und leichtsinnige primus inter pares der weiland gelahrten Schule zu Kloster Amelungsborn, Thedel Münchhausen. »Ja, Heu, Heu! die Herren zu Holzminden machen fürder keinen Ochsen unter sich fett mit dem Heu, das ich ihnen noch auf ihren gelehrten Wiesen zusammenharken könnte.«

»Consilium abeundi?« stammelte der alte Herr.

»Relegatio in aeternum. Diesmal fortgeschickt, aus dem Tempel getrieben, auf Nimmerwiederkommen. Sie hatten eben im Konvent ihre letzte Hoffnung für den Patienten auf die Veränderung von Luft und Ort gesetzet. Gestern waren die Herren zur letzten Konferenz beieinander und sind zu der Meinung gekommen, es sei keine Hoffnung mehr bei ihnen für den armen Sünder in extremis.«

Magister Noah Buchius ließ noch einmal die Hände schwer auf die dürren Kniee fallen, nachdem er von neuem auf dem Rande seines Bettes niedergesessen war. Und sein Kummer wuchs, wie er angstvoll weiter auf dem hübschen, mutwilligen Gesichte seines schlimmen Lieblings, des unbotmäßigsten Coätanen der weiland altberühmten Klosterschule von Amelungsborn nachforschte, und – wenig von seinen eigenen, schmerzensvollen und beschämten Gemütsbewegungen darauf abgemalt fand.

Der Knabe half nicht dem guten, alten Herrn über den Angstbissen, der ihn in der Kehle würgte, hinweg. Er ließ ihn mit aller Rücksichtslosigkeit der Jugend mit dem Kummer, den er ihm machte, fertig werden. Er ließ den alten Mann mit der[74] stoischen Gelassenheit derer, die ihr Leben noch vor sich zu haben glauben, wieder zu Atem und zu Worten kommen.

Es dauerte wiederum eine längere Zeit, ehe der Magister so weit sich gefaßt hatte, daß er matt und ergeben die Frage tun konnte:

»Die gütige Gewogenheit wird Er auch wohl nicht haben wollen, mir zu kommunizieren cur? Zu Deutsch: warum, weshalb, wofür und weswegen? Und was Seine Verwandtschaft zu Wolfenbüttel hierzu sagen wird?«

Thedel von Münchhausen zuckte greinend die Achseln:

»Aus Liebe zu mir und wegen größester Sorge um meine Wohlfahrt und die der deutschen Nation. Sie meinten, was sie mir noch anzubieten hätten bei sich auf der Schulbank, das schlüge doch nur bei mir an, wie's weiland amelungsbornsche Weihwasser beim leidigen Satan. Und das deutsche Vaterland habe mich sicherlich nötiger, als sie, Prior-Rektor, Konrektor und Lehrerkonvent in der neuen gelehrten, unschuldigen Herrlichkeit, vermeinten sie. Gefiel ihnen hier im Walde meine Intimität mit den Wildschützen von Hils, Ith und Vogler nicht, so grauete ihnen vor meiner Kompagnie mit den Weserschiffern fast noch mehr. Konnte aber ich denn davor, daß heute kein Bock den Fluß herauf- oder herunterfährt, von dem sie nicht nach dem lieben Thedel Münchhausen zu den Klassenfenstern hinaufrufen? Und der Frau Priorin war ich schon seit der Quarta ein Dorn im Auge; das wissen der Herr Magister ja ebenso gut als wie ich. Das Poem, die zwei Reime, die ihr an den Reifrock hinten gespendelt waren und so mit ihr umliefen auf dem Schützenhof auf der Steinbreite, sind nicht von mir gewesen; aber ich habe sie auch auf mich nehmen müssen in der letzten Konferenz gestern. Ach ja, was ganz Besonderes ist nicht weiter vorgefallen, das Faß ist übergelaufen und damit basta. Sie haben mir in Zärtlichkeit geraten, nunmehro das Vaterland nicht länger warten zu lassen, sondern zum Kalbfell zu schwören, wie es mir in der Wiege gesungen[75] worden sei, und zumal da der Herr Vormund in Wolfenbüttel ja selber dazu rate. Daß sie mir mit dem Herrn Vormund und Oheim rieten, doch meinen Herrn Vetter von Bodenwerder unter den hannöverschen Jägern, den hohen Alliierten und dem Herzog Ferdinand aufzusuchen, das traf wohl meine Meinung auch; aber – ohne meine Sehnsucht nach Ihm, Herr Magister, hätte ich sie doch noch einmal persuadiert, es noch einmal, zum allerletztenmal mit der lateinischen Stallfütterung bei mir armen Coridon zu probieren. Aber das Verlangen nach dem Herrn Magister –«

»Nach mir?« rief der gute alte Herr, die magern Hände zusammenschlagend. »O Theodorice, Theodorice, Er wird wohl noch auf Seinem Sterbebette Seinen Jokus treiben wollen! Ist denn dies eine Zeit zum Scherzen? So nehme Er jetzo doch für eine Viertelstunde Vernunft an und rede Er verständig, Monsieur. Er siehet doch meinen Kummer um Ihn, und – wir sind hier nicht mehr auf der großen Schule zu Kloster Amelungsborn – sondern nur in der Kammer des alten, verbrauchten unnützen Buchius, und – morgen früh ruft weder Ihn noch mich die Glocke zu den Lektionen, und Er hat an mir keine Materia mehr, sich zu präparieren zu einem neuen Spaß, mit dem Er die Herren Kommilitonen über den närrischen Magister Buchius zum Lachen bringen möchte!«

Dies kam nun in einer Weise zum Vorschein, die den jungen Menschen vollständig duckte. Es war keine Dumme-Jungen-Komödie in dem Ausdruck der Betroffenheit, der Reue, mit dem er sich auf die Hände des alten, vor Erregung zitternden Schulmeisters niederbeugte, sie ergriff und zwischen Verlegenheit und – ja auch zwischen Tränen stotterte:

»Der Herr Magister haben recht, Sie haben recht! Wir haben es alle, Konvent und Cötus, nicht um den Herrn Magister verdient, daß Sie einen einzigen freundlichen Gedanken für uns haben. Da; gleich und wie ein Lamm gutwillig, lege ich mich[76] da vor dem Herrn über den Stuhl – holen der Herr Magister Buchius Ihr spanisch Rohr und zahlen Sie mir nachträglich durch den Rest der Nacht, was ich an Ihnen pecciiert und meritiert habe, und geben Sie's mir für das ganze Kloster, Abt, Amtmann, Rektor, Doktoren und Kollaboratoren mit. Haue Er sie nach Herzenslust in meiner Person. Lasse Er mich in dieser Nacht den wohlverdienten Sündenbock sein für Seine armen elenden dreißig unbelohnten, übelbelohnten Jahre am Schuldienst zu Amelungsborn. Nachher brauche ich nur noch einen andern Abschied hier am Ort zu nehmen; dann werd' ich ja auch wohl den Herrn Vetter auf dem Marsche durch den Ith irgendwo tot oder lebendig treffen; oder wenn den nicht, so doch ohnzweifelhaft den Herrn Herzog Ferdinand und – nachher werd ich's an die Franzosen weiter geben, was Er mir, liebster Herr Magister, in dieser Nacht an Restanten ausgezahlet hat. Da verlasse Er sich drauf! Vivat Ferdinandus dux! imperator! victor! Sie belieben zuzuhauen und mir den meritierten Lohn zu verabreichen.«

Der reuige Sünder hatte wahrhaftig sich den Stuhl vor dem Magister zurecht gerückt und holte wirklich und im vollen Ernst den Stock aus dem Winkel und bot ihn dem guten Herrn hin; aber dieser sprach, die gefalteten Hände vor sich hinstreckend und so mit ihnen abwehrend und mit einer durch Erregung und Rührung erstickten Stimme:

»Mein lieber Junker von Münchhausen!?« ...

»Sie belieben nicht? Der allerbeste Herr wollen alles mir boshaften Kujon und Halunken hingehen lassen? (ein Blick des Bösewichts streifte hier auch ganz unwillkürlich die Kuriositätensammlung des wackern Gelehrten), der Herr Magister will nicht an Thedel Münchhausen nachholen, was Er in dreißig Jahren an der ganzen hohen Schule von Amelungsborn, Cötus und Lehrerkonvent, hat verabsäumet? Dann – gebe Er mir Seine gute Hand und glaube mir, im ganzen[77] römischen Reich, ja, im Universo lebet außer dem Herzog Ferdinand kein anderer außer Ihm, nach dem der wilde Münchhausen solch ein Desir und Verlangen gespürt hat in den letzten Zeiten!«

»O, mein Junker von Münchhausen!«

»Das Heimweh nach dem alten Wesen ist es gewesen, was mich noch einmal hieher gebracht hat. Vater und Mutter weiland zu Bevern und der Herr Vormund in Wolfenbüttel haben mich allzulange hier in der Wildschule belassen. Das alte Kloster, der freie Wald und Himmel haben es mir angetan. Die Herren zu Holzminden haben vermeint, Ihn, den Herrn Magister, ihren Besten, dorten in ihrer neuen Ordnung nicht unter sich brauchen zu können, und sie sind dümmer gewesen als die Esel in diesem Casu. Aber mich, den schlimmen Teufelsbraten, haben sie in Wahrheit und Wirklichkeit nicht bei sich prästieren können. Sie hielten's nicht aus, und ich hab's auch nicht ausgehalten zu Holzminden hinter ihren Mauern, bei ihrem neuen Zwang und Serenissimi des Herzogs Karl Durchlaucht revidierter Schulordnung! Ich hab's mit Willen danach gemacht, daß sie mich vor die Tür setzen mußten. Und nun bin ich hier, ehe ich zu den hohen Alliierten gehe, um den letzten treuesten Abschied von meinem ältesten, treuesten und allergelahrtesten Gönner und unwissend intimsten Freund zu nehmen.«

»Von wem wollte Er Valet nehmen im Kloster Amelungsborn?« fragte trotz seiner Erregung und Erweichung Magister Buchius, den sie dreißig Jahre lang in Amelungsborn im günstigsten Fall nur als einen unschuldigen, närrischen, gutmütigen Simplex taxiert hatten. Und der Exschüler von Amelungsborn und von Holzminden stotterte, jetzt ganz klein werdend:

»Auch da haben der Herr Magister Lunte gerochen? Und haben auch hier Ihre Wissenschaften ganz für sich selber behalten! haben keinem Menschen Ihre Wissenschaften mitgeteilet!«[78]

Der arme Junge hielt die arme, machtlose rechte Hand des alten Herrn zwischen seinen zwei wackern Fäusten und lachte, während ihm wieder die ernsthaftesten Tränen über beide Backen herunterrollten:


»Wohl dem, der so wie Goldschmieds Junge denkt,

Und eher sich nicht zu der Liebe lenkt;

Als bis er nach vollbrachten Jugendjahren

Sich kann in Ehren mit der Liebsten paaren.«


»Krrr!« sprach in diesem Moment der Rabe vom Odfelde. Es hinderte ihn sein wunder Flunk nicht, auf den Stuhl zu hüpfen, den der junge Mensch dem alten Magister vorhin zugerückt hatte. Nun sprang er auch auf die Lehne und von dort auf den Tisch mit dem halbverwischten Kreidestrich und den Resten des Nachtessens des Emeritus von Amelungsborn. Ihm war der Appetit nur wiedergekommen; aber auf den neuesten Gast des Magisters Buchius machte des Viehs Gefräßigkeit den Eindruck, als vertilge es ihm den letzten Rest von Nahrhaftem, von Eßbarem im Weltall. Und zwischen Liebe und Hunger hin und her gerissen, rief Junker Thedel von Münchhausen:

»Ja, sie trägt das weißeste Kleid und die blauesten Bänder am Sonntage. Ja, dulce ridentem Lalagen amabo! Kuck' einer das fressige Biest! Sie ist mir Anadyomene und die ländliche Phidyle. Wir haben sie hundert und tausendmal beim Konrektor Schnellbeckius im Horaz gehabt, und ich habe mit ihr beim Erntefest getanzet, und sie wird mein Feinslieb sein auf ewig. Im Garten und im Walde, auf der Wiese und auf dem Felde hinter der Küchentür haben wir's uns hunderttausendmal geschworen. Der Herr Magister verstehen davon nichts und wollen auch nichts davon wissen; – meinen Hagedorn hat mir der Herr Rektor konfiszieret; aber ich kann die Lieder, in denen er auch sie, unsere Schönste hier, angesungen, auswendig und ich habe sie ihr drunten im Hoop und drüben auf den Ruderibus der Homburg im Busch vorgesungen. O sie ist Cypris, Gnidia,[79] Paphia und Idalia, wann sie gepudert einhertritt; aber löst sie ihre Flechten, fallen sie ihr bis in die Kniekehlen! Als ich ihr vom Stadtoldendorfer Jahrmarkt das letzte Zuckerherz von meinem letzten Pfennig in der Welt brachte, hat sie mit dem Herrn Magister Lessing gesprochen:


Wähl selbst. Du kannst mich Doris,

Und Galathee und Chloris

Und wie du willst mich nennen;

Nur nenne mich die Deine.«


»Mamsell Fegebanck heißt sie!« ächzte Magister Buchius, jetzo die Hände über dem Haupte zusammenschlagend. »Ja, ihr Vatersname ist Fegebanck, und sie ist des Herrn Amtmanns angenommene Vetters Tochter, und –«

»Da geht er mit dem Brot unter den Tisch!« rief Thedel Münchhausen. »Halt da, Kanaille, Kujon! Bei der Belagerung von Saguntum, Numantia und Jerusalem haben sie ihre Schuhe und das Leder von ihren Schilden gefressen; aber ich fresse den Tisch und dich selber, dirum mortalibus omen, du schwarzer Galgenstrick, wenn du den Rest vom Überfluß nicht gutwillig herausgibst!«

Schon war er dem schwarzen Vogel unter den Tisch nachgefahren. Jetzt hielt er den Rest von des Magisters schwarzem Brot zwischen den Fäusten, jetzt biß er hinein und riß mit dem guten Gebiß ab; er – fraß, und –

»Allbarmherziger Gott, und wir haben weiter nichts übriggelassen von unserm Mahl!« ächzte der alte Herr, »wir haben alles allein gemocht! ich habe nichts weiter als das da für den Verschmachteten. O, Dieterice, Dieterice, und die Frau Amtmannin wird weder um meinet- noch um Seinetwegen zu so nachtschlafender Stunde den Schlüssel zum Küchenschrank unter dem Kopfkissen vorlangen.«

Musjeh Thedel stieß zwischen seinem Kauen, Schlingen und Schlucken einen Laut aus, der seine Gefühle in betreff der Frau[80] Klosteramtmannin vollkommen deutlich ausdrückte. Als er den ersten freien Atem wiedergewonnen hatte, seufzte er mit der Befriedigung des fürs erste wenigstens noch einmal vom Verhungern Geretteten:

»Sufficit. Es genüget vors erste; – erzähle du, Wanderer, zu Sparta, daß du mich dankbar erblicket hast für das, was Gott gegeben und Amelungsborn übrig und für jedweden verflatterten Galgenvogel frei und offen auf'm Tische liegen gelassen hat. Auf dem Wege von Holzminden her hatte kein Bauer mehr was! Sie hatten alles in die Erde vergraben und in hohlen Bäumen versteckt vor dem Marquis von Poyanne.«

Magister Buchius drückte beide Hände an die Schläfen: »Es ist ein Wirbel! man überschläget sich im Abysso! Ja, auch der Feind! Man vergisset im selbigen Moment das eine über das andere! Ja, auch das, auch das, auch das! Die Franzosen kommen wieder, und Er ist eben auch gekommen, Münchhausen – und Wieschen und Heinrich Schelze und Mamsell Selinde und die Schlacht auf dem Odfelde – die Rabenschlacht und der Herzog Ferdinand, der Herr Amtmann und die Frau Amtmannin, der Marschall von Broglio, und – der da!«

Er wies auf den Raben, der, seit der Exprimaner von Amelungsborn und Holzminden das Brot ihm genommen hatte, mit kuriosester Zutraulichkeit ein Wohlgefallen an dem jungen Landläufer gefunden zu haben schien.

»Krah!« sprach er, der schwarze Ritter vom Campus Odini, und mit einem Mal saß er dem Knaben auf der Schulter und bohrte ihm fast seinen Schnabel ins Ohr und redete in seiner Sprache zu ihm, eindringlich, nachdrücklich, wohl Sachen von hoher Wichtigkeit, wie Hugin und Munin sie vordem von ihren Flügen über die Erde mitgebracht haben sollen nach Walhalla.

»Vivant tempora!« rief der tolle Thedel, von seinem Sitze aufspringend. »Wer möchte sie anders? Die ganze Welt ein einzig lustig Jagdrevier, – jedem nach seiner Fortuna! Aber[81] freilich, frisch Blut, junge Beine und grobe Fäuste gehören auch wohl dazu, wenn es so zur Rechten und zur Linken blitzt und knallt. Und das Vaterland soll leben, der König Fritze und der Herzog Ferdinand und – Mademoiselle Selinde! Jetzt kann ich es dem Herrn Magister schon gestehen, sie war unsere Göttin schon in der Sekunda, und wir wären für sie durchs Wasser und Feuer gegangen. In der Prima hätten wir alle uns ihretwegen dem Teufel mit Leib und Seele verkauft; aber zu mir allein hat sie gesagt: Herr von Münchhausen, die andern sind mir doch alle dumme Jungen, aber mit Ihm und unter Seiner Sauvegarde ginge ich schon in die weite Welt, wenn es mir ma chère tante nur noch ein bißchen schlimmer macht. Sie ist ein Engel, mein Engel, ich lasse mir die Knochen für sie zusammenschlagen, und ich schlage jedem, den sie lieber will als mich, die Knochen zusammen; und wenn chère tante ihr es jetzt zu arg gemacht hat und sie mit will, so bin ich in dieser Nacht auch deswegen noch einmal in Amelungsborn – Herr – was – soll? –«

Er vollendete sein Wort nicht. Magister Buchius hatte ihn zu fest an der Schulter gefaßt, Magister Buchins schüttelte, riß ihn, selber vor Aufregung zitternd, zu sehr hin und her. Magister Buchius sagte das, was er bis jetzt noch niemals zu einem der Herren Sekundaner oder gar Primaner der gelehrten Schule in Amelungsborn zu sagen gewagt hatte. Er sagte:

»Lieber Monsieur von Münchhausen, Er ist ein Narr. Nehme Er es mir nicht für ungut; aber Er ist mehr denn ein Narr – Er ist ein Einfaltspinsel und ein neugeboren Kind im Tummel dieses irdischen Elends. Er hat den Ovidius zu viel und den Livius und den Tacitus zu wenig traktieret. Man hat dieses Ihm hier am Orte nicht verhalten und man wird's Ihm im neuen Wesen zu Holzminden gesagt haben. Mit der Mademoiselle kann ich Ihm nicht dienen, so wenig ich Ihm in dieser Nacht zu Seinem Stück trockenen Brotes da zu einem andern Stück guten Fleisches verhelfen kann. Sie ist doch um mehrere[82] Lustra älter als wie Er. Ei, wie hat Er mich mit sich drehend gemacht! Ich möchte Ihn in meine Arme fassen, um Ihn nimmer wieder von mir ziehen zu lassen; und ich möchte – ei, ich möchte« –

»Doch das hispanische Rohr ergreifen und dem Halunken sein meritiertes Teil geben, daß kein Korporal nachher beim König Fridericus oder dem guten Herzog Ferdinand noch eine heile Stelle für seinen Stab Wehe ausfinden sollte! Haue Er zu, Herr Magister, aber rede Er mir nichts gegen Jungfer Selinde Fegebanck.«

Der alte Magister zog seinen besten und schlimmsten Schüler in seine Arme und gebrauchte den Stab Wehe der Korporale und der Schulmeister des achtzehnten Säkulums wahrlich nicht an ihm. Das gemästete Kalb hatte er nicht für ihn schlachten können, Mamsell Selinden vermochte er ihm nicht aus den jungen Sinnen und Gedanken zu vertreiben; aber nach vielem Hin- und Herreden gab er ihm den Strohsack aus seiner Bettstelle und begnügte sich mit dem Unterbett. Er wollte ihm auch sein Kopfkissen geben; doch das nahm Thedel von Münchhausen nicht an, sondern rollte einfach seine Jacke zusammen und sich zusammen gleich einem Igel unter des Magisters Rockelor.

Während der Junge sofort auf seinem spartanischen Lager einschlief, blieb der Alte noch eine geraume Zeit wach und hörte seine Kirchturmuhr schlagen und suchte die Gespenster und Gedankengespinste dieses Tages zu »einfachen und ordentlichen« Schlüssen zusammenzuziehen und fest zu bannen. Er entschlummerte und erwachte schreckhaft von neuem. Er balgte sich in den Augustschlachten des laufenden Jahres mit dem Herrn Vikomte von Belsunce und dem General Luckner; er war mit seiner Schule auf dem Wege vom Auerberge nach der Weser und er sah sich allein gelassen auf der Landstraße und hatte immer fort vor sich hin zu sprechen: Siebenzehnhundertsechzig, Siebenzehnhundertsechzig, Siebenzehnhundertsechzig. Eben ging er noch auf der Berlin-Kölnischen Heerstraße, die Schöße seines[83] schwarzen Schulmeisterrockes gegen den Wind zusammenhaltend; nun entfalteten sie sich doch und trugen ihn aufwärts unter die schwarzen gefiederten Tausende, die ihre Schlacht über dem Odfelde und dem Quadhagen ausfochten. Er hieb auch mit dem Schnabel nach rechts und links, doch er hatte bissige Gegner, die ihn auch von allen Seiten zu bedrängen verstanden. Daß er mehr als einen seiner früheren Herren Kollegen mit wirbeln und auf sich einfliegen sah, war so im Traum eigentlich nicht verwunderlich. Hui, und das Feldgeschrei, wie es verworren um ihn krächzte, knarrte, kreischte:


»Barbara, celarent primae, darii ferioque.

Cesare, camestres, festino, baroco secundae.

Tertia darapti sibi vindicat atque felapton

Adjungens disamis, datisi, bocardo, ferison!«


Alles scholastische Schulgeschrei, was durch die Jahrhunderte zu Kloster Amelungsborn in den Zellen und auf und vor den Kathedern verhallt war, das war in diesem Traum und in dieser Nacht von neuem wach geworden. Aber selbst im Traume war es dem Magister Buchius verwunderlich, daß er plötzlich auch Mademoiselle Selinde Fegebanck mit gelöstem Rabengelock auf sich einstürmen sah: »Baroco! facrono!« – Was half es ihm, daß er der Walkyria entgegenzeterte: »Bocardo! docambroc!«? Sie umfittichte ihn näher und näher, schlug ihm die Perücke vom Haupte und faßte ihn mit den Krallen in die Brustklappen seines Rockes und hieb auf seinen Busen ein. Da sank er unter dem harpyischen Gespenst und Omen tiefer und tiefer aus den dunkeln Lüften hinab auf seinen Campus Odini, und als er den Boden berührte, erwachte er natürlich, und es war sein schwarzer, gefiederter Schützling und Gastfreund vom Odfelde, der ihm in Fleisch, Blut und Federn auf der Brust saß und an den Knöpfen seines Nachtkamisols zupfte. Er erhob sich jach, der Magister Buchius nämlich, und das Scheusal flatterte mit Gekrächz von ihm und zurück in den Ofenwinkel; der Magister[84] aber lag schweißtriefend, halbaufgerichtet auf seinem rechten Ellenbogen und horchte nach seinem anderen Schützling und Gastfreund hin. Der wendete sich eben in seinem Traum von der Linken auf die Rechte und murmelte unruhvoll, ja weinend:


»Dieser Zeit Gemüter

Führen falsche Güter,

Weil der Zeug der Welt

Keine Farbe hält.

Trau nicht Wort und Hand;

Denke nur, kein Pfand

Ist genug vor Unbestand.«


Dies war aus einem Liederbuch, das vordem auf seiner seligen Mutter Tischchen zu Bevern gelegen hatte. Es stammte noch aus dem verflossenen Jahrhundert, enthielt des Herrn von Hoffmannswaldau und anderer berühmten teutschen Poeten auserlesene Gedichte; und der Junker von Münchhausen hatte schon in jüngsten Jahren mehr aus ihm gelernt, als ihm eigentlich gut war.

Quelle:
Wilhelm Raabe: Sämtliche Werke, 3 Serien, 18 Bände, 3.Serie, Band 4, Berlin o. J. [1916], S. 70-85.
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