An Lycidas

[43] Wen seine Mutter unter den zärtlichen

Gesängen heller Nachtigallchör' empfieng,

Wer ihr in ihren Götterträumen

Nächtlich als Schwan sich vom Busen loswand,
[44]

Hängt nicht erstrittne Fahnen, und Schlüffel von

Bezwungner Städte Thoren, und feindliche

Galeerenschnäbel in Gradivens

Blutige Tempel auf; keine Schiffe,


Mit Künsten aller Völker, mit jeder Frucht

Der sonnenrothen Berge, des kalten Meers,

Der aufgedeckten Hölle wuchernd,

Fliegen für ihn um die beiden Pole.


Ununterwiesen wird er als Knabe schon

Die Frühlingsbluhme singen, und froh bestürzt

Sich einen Dichter grüssen hören.

Ihm wird die jüngste der Charitinnen,
[45]

Die wohlbewachte Scham, sich zur Führerinn

Entbieten. Ihm wird Pallas die Wolke von

Den Augen nehmen, dass ihr Jünger

Wahrheit und blendenden Trug erkenne.


In Wäldern wird er einsam den Vater der

Natur verehren. Endlich, o Lycidas,

Erwartet er, gleich eines fremden

Mannes Besuche den Tod mit Gleichmuth.


Quelle:
Karl Wilhelm Ramler: Oden, Berlin 21768, S. 43-46.
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Oden
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