Die Darstellung Mariae im Tempel

[667] Um zu begreifen, wie sie damals war,

mußt du dich erst an eine Stelle rufen,

wo Säulen in dir wirken; wo du Stufen

nachfühlen kannst; wo Bogen voll Gefahr

den Abgrund eines Raumes überbrücken,

der in dir blieb, weil er aus solchen Stücken

getürmt war, daß du sie nicht mehr aus dir

ausheben kannst: du rissest dich denn ein.[667]

Bist du so weit, ist alles in dir Stein,

Wand, Aufgang, Durchblick, Wölbung –, so probier

den großen Vorhang, den du vor dir hast,

ein wenig wegzuzerrn mit beiden Händen:

da glänzt es von ganz hohen Gegenständen

und übertrifft dir Atem und Getast.

Hinauf, hinab, Palast steht auf Palast,

Geländer strömen breiter aus Geländern

und tauchen oben auf an solchen Rändern,

daß dich, wie du sie siehst, der Schwindel faßt.

Dabei macht ein Gewölk aus Räucherständern

die Nähe trüb; aber das Fernste zielt

in dich hinein mit seinen graden Strahlen –,

und wenn jetzt Schein aus klaren Flammenschalen

auf langsam nahenden Gewändern spielt:

wie hältst du's aus?


Sie aber kam und hob

den Blick, um dieses alles anzuschauen.

(Ein Kind, ein kleines Mädchen zwischen Frauen.)

Dann stieg sie ruhig, voller Selbstvertrauen,

dem Aufwand zu, der sich verwöhnt verschob:

So sehr war alles, was die Menschen bauen,

schon überwogen von dem Lob


in ihrem Herzen. Von der Lust

sich hinzugeben an die innern Zeichen:

Die Eltern meinten, sie hinaufzureichen,

der Drohende mit der Juwelenbrust

empfing sie scheinbar: Doch sie ging durch alle,[668]

klein wie sie war, aus jeder Hand hinaus

und in ihr Los, das, höher als die Halle,

schon fertig war, und schwerer als das Haus.


Quelle:
Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Band 1–6, Band 1, Wiesbaden und Frankfurt a.M. 1955–1966, S. 667-669.
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