Von der Hochzeit zu Kana

[675] Konnte sie denn anders, als auf ihn

stolz sein, der ihr Schlichtestes verschönte?

War nicht selbst die hohe, großgewöhnte

Nacht wie außer sich, da er erschien?


Ging nicht auch, daß er sich einst verloren,

unerhört zu seiner Glorie aus?

Hatten nicht die Weisesten die Ohren

mit dem Mund vertauscht? Und war das Haus


nicht wie neu von seiner Stimme? Ach

sicher hatte sie zu hundert Malen

ihre Freude an ihm auszustrahlen

sich verwehrt. Sie ging ihm staunend nach.


Aber da bei jenem Hochzeitsfeste,

als es unversehns an Wein gebrach, –[675]

sah sie hin und bat um eine Geste

und begriff nicht, daß er widersprach.


Und dann tat er's. Sie verstand es später,

wie sie ihn in seinen Weg gedrängt:

denn jetzt war er wirklich Wundertäter,

und das ganze Opfer war verhängt,


unaufhaltsam. Ja, es stand geschrieben.

Aber war es damals schon bereit?

Sie: sie hatte es herbeigetrieben

in der Blindheit ihrer Eitelkeit.


An dem Tisch voll Früchten und Gemüsen

freute sie sich mit und sah nicht ein,

daß das Wasser ihrer Tränendrüsen

Blut geworden war mit diesem Wein.


Quelle:
Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Band 1–6, Band 1, Wiesbaden und Frankfurt a.M. 1955–1966, S. 675-676.
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