[133] Culassa spuckte von seiner Hängematte herab ein Stück Käserinde aus, traf den Lampenzylinder, der stürzte zerbrochen herab. Die befreite Flamme wurde unruhig, sie richtete einen Rußstreifen nach der gewölbten Decke der Kasematte empor. Diesem Übel schien nicht abgeholfen zu werden, denn Culassa, obwohl er den Schaden bemerkt haben mußte, wälzte sich gleichmütig auf die andere Seite und biß unbekümmert weiter an dem Bruchteil einer roten Sonne aus Edamer Käse. Die Bänke aber um den nur durch Runzeln und Brandflecke bemerkenswerten Tisch standen leer, und aus den Hängematten, die hoch darüber unter der Wölbung hingen, wie fette Fischbäuche, klang variiertes, fallendes oder steigendes Schnarchen. Nun aber turnte aus der links neben Culassa aufgezurrten Hängematte eine lange, auffallend hagere und hohlwangige Gestalt in Strümpfen und Unterkleidung, sammelte etwas unbeholfen die Glasscherben vom Boden auf, trug sie nach dem Mülleimer und kehrte dann zurück an den vorherigen Platz.[133]
Culassa grinste gutmütig. Er brach mit der Hand ein rührendes Stück von der roten Sonne ab und reichte das dem Nachbar hinüber mit den Worten: »Da! – Bist du nicht auch erst seit heute hier?«
»Ja. Mich schleppt man schon seit Wochen von Garnison zu Garnison.«
»Bist du Schiffsjunge?«
»Nein, Kriegsfreiwilliger. – Ich meldete mich im August in Danzig. Nach meiner Ausbildung diente ich sechs Monate lang auf einem Depeschenboote –«
Culassa kniff ein Auge zu. »Aha, verstehe. Das paßte dir nicht, mein Muttersöhnchen. Fixer Seegang? Windstärke zwölf, he? Mit Seestiefeln zur Koje?«
»O«, sagte der Freiwillige blitzend, »das war noch das Beste daran. – Seeleute waren wir! Aber keine Soldaten. – Ich habe mich viermal vergeblich auf U-Boote und jetzt zu den Fliegern gemeldet, aber auch daraus scheint nichts zu werden. –«
»Bengel, du frierst ja!« rief der Ältere plötzlich mit jenem grausamen Spott der Seeleute.
Wirklich, der Freiwillige klapperte mit den Zähnen, wollte es aber nicht zugeben, sondern stammelte etwas von »dummer Angewohnheit« und verwischte diese Entschuldigung und das Vorangegangene wieder durch die Frage: »Woher kommen denn Sie?«
»Von einem Torpedoboot. S 116.«
»Haben Sie schon an einem Gefecht teilgenommen?«
»Hm, viermal. Zuletzt sind wir vor der Weser abgesoffen. Kesselexplosion.«
Der Freiwillige reckte den Kopf so weit in die Höhe, daß eins seiner verhältnismäßig übergroßen Augen den Mann sehen konnte, der an vier Seegefechten teilgenommen und Schiffbruch erlitten hatte. »Da haben Sie sich also ungewöhnliche Erinnerungen fürs ganze Leben gesichert. – Das muß doch sehr interessant gewesen sein?«
»Auf S 116? Das will ich meinen! Alle Tage warmes Abendbrot. Frische Butter, soviel wir wollten. Und ungefähr alle drei Wochen in die Werft. Urlaub bis zwölf.« Die Unterhaltung zog sich infolge häufiger Pausen in die Länge. Der Hagere ließ meist einige Minuten im Schweigen verstreichen, bevor er zu einem neuen Satz ausholte, und dann sprach er unsicher, schüchtern. »Was will man nun hier mit uns – mit mir anfangen? –«[134]
Culassa spie wieder ein Stück Rinde aus und wickelte sich grunzend in seine Decke. – »Ja, wer kennt sich da aus? Das wird alles an den grünen Tischen ausgeknobelt. Unsereins kann nix dazu tun, als das Maul halten, bis es heißt: die zum Sterben abgeteilten Leute antreten zum Särgeempfang! oder so was Ähnliches. Und dann gehen wir, wohin man uns schickt. Nach der Türkei oder nach Belgien. Rekruten drillen oder englische Dampfer kapern, in die Fourierstube oder als Kanonenfutter. Aber sei man nicht bang, mein Junge, vorläufig wollen wir uns hier erst mal eine Zeitlang mästen, bis sie eine Verwendung für uns haben, und bis dahin ist dann hoffentlich auch schon Frieden.«
Zwei aus Trunkenheit polternde Stimmen näherten sich der Kasematte. »Das sind die beiden mit dem Eisernen Kreuz«, meinte Culassa unter der Decke hervor, »der eine hat bei Helgoland ein Auge verloren.« Der Freiwillige beobachtete, wie zwei bezechte Matrosen hereinstolperten. Sie redeten mit den Armen und mit Worten aufeinander ein, so laut, als hielte jeder von ihnen den anderen für schwerhörig, und beide redeten gleichzeitig. Nachdem sie ihre Plätze gefunden hatten, brachten sie es mit Anstrengung und Lärm dahin, ihre Spinde zu öffnen.
Der eine Matrose trug tatsächlich ein Glasauge, das er nicht mit dem Lide darüber zu verdecken imstande war. Fürchterlich sah er überhaupt aus. Sein Gesicht war von Brandwunden bedeckt, der Hals mit einem Verband umwickelt, und sein rotes Haar hing struppig über die Stirn. »Ein Weib!« schrie er wiederholt, sich die Kleidungsstücke vom Leibe reißend, um sie, Exerzierkragen, seidenes Tuch, Mütze, eins nach dem anderen auf den Fußboden zu werfen, »ein Weib! Junge, ich sage dir: ein Galaweib! So ein Busen! Und einen Achterpanzer! Und in Dreß wie eine Fürstin!«
Der andere Betrunkene wies gerade eine Vorahnung von Erbrechen zurück. »Nun setz man einen Stopper auf«, lallte er, »so ein Weib geht doch nicht mit einem Kuli, der nur ein Auge hat.«
»Ha, du Schlammroß, es sind eben nicht alle solche Mistspoken, wie du eine bist. Meinst du, ich würde nicht auch mit dem Mädchen gehen, wenn sie nur einen halben Busen hätte?«
Die Tür ward aufgestoßen, und eine militärische Stimme fragte herein: »Hilderling?«
»Hier, das bin ich«, meldete sich der Hagere laut und gierig.
»Morgen früh sieben Uhr vor dem Pulverschuppen antreten!« Die Ordonnanz aus der Schreibstube wollte sich entfernen. »Was[135] soll's denn werden?« rief der Freiwillige drängend; er war ganz bleich im Gesicht geworden, und seine Zähne klapperten wieder hörbar aufeinander. Aber seine großen Augen zeigten einen sonderlichen Glanz von Frohsein.
»Arbeitskommando«, schnarrte die Ordonnanz kurz angebunden und schlug die Tür von außen zu.
Aus verschiedenen Seiten der Kasematte her brach ein gellendes Gelächter. Hilderling beteiligte sich daran, ungeschickt, wie er alles anfing. »Arbeitskommando? Was ist denn das?«
Culassa knurrte, schon halb im Schlaf, einige Andeutungen: »Kohlen schaufeln. Deckwaschen. Messing putzen. Strohsäcke stopfen.«
In der nächsten Frühe hallte die holter polter gepflasterte Straße, welche nach dem Wasser führt, von Schritten einer Abteilung Soldaten wider, die sich lustig genug ausnahm. Denn sie bestand aus fünfzehn Marinern, die in unförmig bauschige Takelbüchsen gekleidet waren und je einen Besen wie ein Gewehr geschultert hatten, dabei Pfeife rauchten und mit nichts und jedem ihre Posse trieben. Torpedermaat Bärtel, der zugführende Unteroffizier, nahm an dem Witzeln nicht teil, aber es kostete ihm Mühe, sein Gesicht dauernd in dem strengen, bärbeißigen Ausdruck zu erhalten, auf dem das ganze Ansehen seiner Charge balancierte. Ihn amüsierte nur der dürre Flügelmann der ersten Gruppe, weil dieser im Gegensatz zu den übrigen Soldaten mit aufrichtigem Ernst, ja mit einer unverkennbaren Begeisterung und durch Gedanken entrückt im Glied marschierte, außerdem zum Takte des Marschtempos ein Lied leise, doch so andauernd vor sich hin sang, daß sein Atem darüber in Erregung geraten war. Der Rhythmus der Melodie klang wie geschaffen für die zögernde Gangart, welche die Arbeitsgruppen sich anmaßen, außerdem kannte Bärtel so etwas vom Wortlaut des Liedes. So kam es, daß er dasselbe schließlich selbst mitbrummte.
Es geht bei gedämpfter Trommel Klang.
Wie weit noch die Stätt! Der Weg, wie lang!
O wär er zur Ruhe und alles vorbei.
Ich glaube, es bricht mir das Herz noch entzwei! ...
Indes, als Bärtels Zug sein Ziel erreichte, dies war eine vor der äußersten Mole verankerte Hulk, ein abgetakeltes, ehemaliges Schulschiff, schlug der Unteroffizier einen ganz anderen Ton an, indem er seinen Soldaten befahl, das Deck zu fegen, Wasser[136] aufzuschlagen, herumliegende Enden aufzuschießen und anderes. Zu dieser Anweisung bediente er sich der gröbsten, unflätigsten Ausdrücke, deren er sich besinnen konnte, und errötete, als ihm solche wider Willen nur zaghaft und sanft über die Lippen kamen, daher auch statt Furcht oder Eifer nur lächelnde Heiterkeit hervorriefen. Bald danach entschwand Torpedermaat vom Deck wie ein Nebel. Seine Leute zerstreuten sich behaglich unter der stillen Vereinbarung, ihre Arbeiten möglichst in die Länge zu ziehen. Sie wanderten selbzweit oder -dritt durch alle Räume und Gänge des Schiffes, das jetzt zur Aufbewahrung von Kriegsmaterial diente, besprachen, verglichen, belächelten überlegen oder priesen übertreibend die veralteten Einrichtungen und Maschinen und schonten die Besen. Ein Oberheizer, der von Bord S.M.S. Wittelsbach abkommandiert war, gesellte sich zu Hilderling und kicherte, sich die Hände reibend: »Na, hier sind wir fürs nächste gut aufgehoben. Wir wollen diesen angefaulten Schiffskadaver nicht mit Schweißtropfen verunreinigen.« Hilderling nickte. »Ja, es ist ein unverständlicher, komplizierter Apparat, der uns buntgemischtes Volk aus allen Winkeln Deutschlands, gerade uns hierher versetzt, um in dem ungeheuren Weltkrieg 1915 einen alten Schiffsrumpf abzuschrubben. – Doch, wer weiß, übermorgen segeln wir vielleicht durch Granatenhagel.« »Und nächstes Jahr« – fiel der von der Wittelsbach ein – »gibt dir ein hübsches Mädel einen Korb oder einen Sechser, weil dir der rechte Arm fehlt und weil Krüppel eben Krüppel bleibt, mag er seine Knochen nun am Geschütz oder an der Dreschmaschine verloren haben.«
Hilderling blickte nicht den Heizer an, sondern über ihn und die Reling hinweg. »Schau! Schau!« rief er, »dort fährt eins von den neuen Tauchbooten! – Nicht wahr, ein Oberleutnant führt solch ein Boot? – Vielleicht wird er Großes leisten, wie Weddigen.« –
»Und zugrunde gehen wie Weddigen?« kicherte der Oberheizer.
»Ja, wie Weddigen!« wiederholte Hilderling, und seine Augen blitzten einen Moment. Dann fuhr er versonnen fort: »Ich habe Weddigen gekannt. – Er sah aus, wie die meisten unserer Seeoffiziere aussehen: jung, schneidig, frisch, hell. – Und nach hundert Jahren wird er aussehen wie – – was weißt du vom Admiral Kortenaer von Helst. – Aber von Störtebecker hast du gehört. – Kamerad, es verhält sich vielleicht so: In der Küche schmeckt nichts. Abstand! Abstand!« Damit ließ der Freiwillige[137] den Oberheizer kopfschüttelnd stehen. Er schlenderte über Deck, zog sich träge eine eiserne Treppe empor und fand auf der Back einen zur Drückebergerei verlockenden Platz, wo er sich der Länge nach auf das saubere Holzdeck hinstreckte.
Das stellte sich als eine gute Wahl heraus. Ganz vorn, dicht am Bug, nach achtern zu durch die Schanze verborgen, auf dem Rücken liegend, den Nacken gegen das Fundament einer Kanone gestützt, überschaute er bequem einen Streifen des Meeres, mit Panzerschiffen, Torpedobootszerstörern, Netzsperren, einem Leuchtturm und mannigfachen Spezialfahrzeugen, und darüber freien, weiten, frohen Himmel. Hoch in der Bläue kreiste ein Flugzeug. Das Surren des Propellers klang an Hilderlings Ohr, auch Sirenensignale und von der Werft her ein tausendfaches Hämmern.
Es war der erste rechte Frühlingstag nach dem Winter. Die Sonne durchwärmte den jungen Matrosen und versprach, sein blasses, schmales Gesicht zu bräunen, während die leichte Brise eine köstliche, feuchte Salzluft über seine Stirn strich. Und er dehnte sich glücklich. Seine großen Augen hatten den Glanz der Sehnsucht angenommen und verrieten auf irgendwelche Weise, wie der Ruhende über das, was er sah, tief nachdachte.
Plötzlich, wohlwissend, daß er ein kleines militärisches Verbrechen beging, schleuderte er den Besen mit einem ungelenken, doch kräftigen Stoß über Bord und schloß dann lächelnd die Augen, während er zu sich selber sprach: »Aber auch der Ruhm steht nicht fest; es gehören wenigstens zwei Menschen dazu, ihn zu halten.« Und nach etwa einer halben Stunde sprach er abermals Worte laut aus. Er sagte: »Nun kommt wieder der Mai mit Käferchen und Krokus.«
»Liegt hier Hilderling?« Eine dienstliche Stimme warf abends diese Frage in die Kasematte 14 hinein. Dort saßen noch drei Leute beim Skat; die gaben zunächst keine Antwort. Culassa starrte mit gelassener Siegesgewißheit auf seine unentschlossenen Gegner. Endlich stellte er ohne aufzublicken die Gegenfrage: »Was soll er denn?«
»Morgen früh auf ein Unterseeboot.«
Culassa gewann das Spiel. Er strich die Karten ein und sagte, so auf seine Art langsam in Einem weg: »Gott verdamme Amerika! Mit eins, aus der Hand zwei, Schneider drei. Hilderling ist tot. Den haben sie heute Nachmittag tot auf der Hulk gefunden. Sonnenstich[138] oder Herzschlag oder Gott weiß was. Armer Bengel! Wenn du mit Karo-Aß gestochen hättest, wär alles anders gekommen.«
Ausgewählte Ausgaben von
Die Woge
|
Buchempfehlung
Der junge Chevalier des Grieux schlägt die vom Vater eingefädelte Karriere als Malteserritter aus und flüchtet mit Manon Lescaut, deren Eltern sie in ein Kloster verbannt hatten, kurzerhand nach Paris. Das junge Paar lebt von Luft und Liebe bis Manon Gefallen an einem anderen findet. Grieux kehrt reumütig in die Obhut seiner Eltern zurück und nimmt das Studium der Theologie auf. Bis er Manon wiedertrifft, ihr verzeiht, und erneut mit ihr durchbrennt. Geldsorgen und Manons Lebenswandel lassen Grieux zum Falschspieler werden, er wird verhaftet, Manon wieder untreu. Schließlich landen beide in Amerika und bauen sich ein neues Leben auf. Bis Manon... »Liebe! Liebe! wirst du es denn nie lernen, mit der Vernunft zusammenzugehen?« schüttelt der Polizist den Kopf, als er Grieux festnimmt und beschreibt damit das zentrale Motiv des berühmten Romans von Antoine François Prévost d'Exiles.
142 Seiten, 8.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro