Lichter im Schnee

[154] »Spuren des russischen Rückzugs«, sagte Keltermann und stieß einen morschen Sattel wie einen Fußball vom Boden empor.

Unauffällig in ihrem Feldgrau zogen die acht dahin. Der Boden, bald Moos, bald Heide oder Nadelwaldgrund und wieder Sumpfwiese, bog sich teppichweich und leise. Nur das ausgedörrte, rostbraune Gezweig, das, durch die Axt oder durch Geschosse vom Stamm geschlagen, allenthalben umherlag, knisterte und knackte unter den benagelten Stiefeln, und wo die Sonne die Karabiner traf, blitzte stechend der Stahl auf.

»Sechzehn Kilometer vor den äußersten Stellungen.«

Die kleinen, jämmerlich abgemagerten Russengäule vor einer passierenden Gulaschkanone wurden belacht; nur Leibgeris sprach ernst mit seiner Grabesstimme eine neue Kriegsbeobachtung aus, auf die ihn das Quietschen der Räder brachte: »Auch an Schmiere mangelt's.«

Sie blickten die vereinzelten Infanteristen, Jäger oder Artilleristen, die ihnen begegneten, unternehmungsstolz und ebenso wissensdurstig an, wie sie selber als Mariner in dieser Gegend betrachtet wurden. Aber jedesmal glitten, wenn solch ein Tschaßki auftauchte, die Karabiner von den Schultern. Denn ob diese acht Männer sich auch auf deutschem – deutsch besetztem Gebiet befanden, so deuchte ihnen doch Vorsicht geboten. Märsche durch unbekanntes Terrain unmittelber hinter der Kampflinie waren ihnen etwas Neuartiges.

Das Neuartige speiste ihre Phantasie, ihr verwegenes Wohlbehagen und ihre Furcht, obwohl das keiner dem anderen eingestand; äußerlich, in Sprache und Miene, wahrten sie eine gewisse eingeführte Verkehrsform, die schlapp und unehrlich war.

Als zwei Reiter sich näherten, wie sich ergab: ein Major mit seinem Burschen, lief ihnen Bootsmaat Olyphant entgegen und meldete stramm dem Offizier:

»Zwei Unteroffiziere und sechs Mann vom Sonderkommando 213 der zwoten Matrosendivision auf dem Wege nach Goflaz.«

»Marine hier? Was wollt ihr den in Goflaz?«

»Quartiere suchen.«[155]

»Und was hat Ihr Kommando vor?«

»Darüber darf ich nicht reden, Herr Major.«

Der Offizier machte eine unwillige Geste, fand indessen die Antwort korrekt und trabte dankend weiter.

Abermals ließen sich Kanonenschläge von weit her vernehmen, dann minutenlang ein Geräusch, wie es ähnlich ein Spaziergänger erzeugt, der seinen Stecken an einem Gartenzaun streifen läßt.

»Das sin russ'sche Maschinengewähre, unsre deitschen dack'n viel schneller.«

»Ach, Schnack! Du hast gar keinen Savi von solchen Sachen.«

»Villeichd mehr als du, griener Regrud. Du bisd ja noch nich mal droggen hinder de Ohren.«

»Leicht möglich, weil ich mich öfters wasche, während gewisse andere Leute seit – – –«

»Was du so waschen nennst: in de Lufd geschbuggd und drunder weggesausd –«

Die Kameraden nahmen durch Gelächter oder hämische Glossen Partei. Inzwischen war auch unter den beiden vorausschreitenden Unteroffizieren Hader ausgebrochen. Obermaat Glomsda behauptete, ihm, als dem Dienstälteren, hätte die Meldung an den Major zugestanden. Berthold Olyphant hingegen berief sich darauf, daß er aktiv sei und daß der Kapitän ihn als Transportführer bestimmt, solches auch nicht widerrufen habe, als noch im letzten Augenblick der Obermaat zu der Gruppe hinzukam. Der unerquickliche Streit grub allerlei kleinlichste Nebensachen und Vorwürfe aus.

Ein breites Rauschen schlich sich in die Ohren ein. »Die See«, sagte Glomsda, »wir wollen dem Strande folgen, es ist der sicherste und der hellere Weg.«

In der Tat beugte sich Olyphant doch meist der größeren Erfahrung und der nüchternen Entschlußfertigkeit des Obermaaten.

Das Gelände ward zunehmend sandiger und damit anstrengender. Wagenräder und abscheulich unsaubere Kleidungsstücke lagen am Wege – auch ein abgenutzter Kinderschuh und (der Tsingtauschorsch griff es auf, alle bestaunten das an sich unscheinbare, ausgezackte Eisenstück) ein Granatsplitter. »Wer das in de Fresse grichd, der gann sich nachher de Visasche mid d'r Debbichsauchmaschine zusammsuchen.«

Ein Pionier schloß sich ihnen an, der einen Postsack nach einem[156] Unterstand bringen sollte. Sie frugen ihn aus, heiß neugierig, und er gab wichtig Auskunft, mit Erfundenem flickend, wenn seine Kenntnisse aussetzten. »Noch sechs Kilometer bis Goflaz ... dort liegen Dragoner, Artillerie ... fünfzehn Zentimeter und zwanzigeinhalb ... jeden Abend funken die Russen, aber an ein Vorwärtskommen durch den Sumpf ist vorläufig beiderseits nicht zu denken ... Spione erschossen ... Nein, diese Post ist für Pioniere ...«

»Ein Sack voll Speck und Tränen aus aller Welt«, bemerkte Olyphant, nur um als Teilnehmer an der Unterhaltung zu gelten.

»Bekomm ju regelmäßig Post?« ... »... Urlaub ... Entlausung ...«

»Seid ihr alle geimpft?« ... »Wie schdehd's denn mid der Verflägung? Mer gann sich hier wohl geene Schwielen in'n Bauch fressen?«

Bald wußten sie alles oder stellten doch, von Neuigkeiten gesättigt, das Fragen ein.

Schier unerträglich drückte der Ranzen, das Koppelzeug mit Spaten und Patronen.

Da tat sich eine überraschende, weite Helle auf. Vor der tiefstehenden Sonne blendeten und glitzerten die Dünen, deren Flächen vom Wind in starre Wellchen gemustert, streckenweise von Fußspuren sowie verstreutem, vielartigem Gerät und Abfall gestört waren. Auf einem Hügelkamme stand vor feurig ausgestrichenem Gewölk eine anmutige Silhouette. Zwei Lanzenreiter –»Dragonerpatrouille« – neben einer abnormen Kiefer.

Müde stapften die Maate und Matrosen hügelan, hügelab, bis das Meer, ihr Meer sie mit wildem Spiel aufweckte. Weiße Schaumungeheuer fauchten über das dunkle Gewoge, glitten ein Stück von rechts nach links und versanken jäh, und immer neue kamen und schwanden.

»Die Landzunge ist noch von den Russen besetzt.«

Immer noch donnerten die Kanonen.

»Setzt die Karabiner – zusammen!« Die Tornister fielen herab, überschlugen sich. Es war ein süßes Atmen ohne diese Bürde. Es war eine Wonne, sich nun auf unbemessenem, sauberem Boden lang zu strecken.

Waschkuhn durchkämmte mit gepreizten Fingern den Rieselsand. »Kik mol, du Krät, dat es enn Collerabakzille; ek glow, dat hebbe de krätsche Russe akratz för uns hengeschmäte.«[157]

Der Mann mit dem gelben Bande der Rettungsmedaille ereiferte sich: »Blödsinn! Eine Bazille ist so lütt, daß man sie ohne Brille überhaupt nicht sehen kann.«

»Soll das wahr sin, daß das Ubood im Schußfeld unserer Badderien liechd?«

»Selbstverständlich, sonst würden es doch die Russen sich zurückholen.« Der Tsingtauschorsch schleuderte einen halben Pferdeschädel nach dem Sachsen. Daraus entstand neuer Zwist. Auch die Unteroffiziere bissen sich noch eine Weile. Dann war wieder Waschkuhns Stimme oben: »Mensch, mog di man nich so breet!«

»Was willst du denn immer von mir, du schwammiges Aas?«

»Ik war di oldbaksche Gesell glik eent ver'n Frät gewe, schon von wegen dat mit de Collerabakzillen –«

»Na, willst du mir vielleicht was über Bazillen weismachen? Wo ich acht Monate lang auf Lübeck Sanitätsgast – – –.« Der Disput ward allgemein.

Glomsda entschied: »Ein Cholerabazillus ist nur durchs Mikroskop erkennbar.«

»Aber Herr Obermaat! Wo ich doch neun Monate lang Sanitätsgast war, wo wir jeden Morgen die Gonokokken und Bazillen haufenweise mit dem Haarbesen wegfegen mußten – – –«

»Ein Bolera – – – ein Cholerabaktizillus ist ein Wurm!«

»Jawohl! So eine Art Tausendfuß.«

»Sag doch lieber gleich ein Singvogel.«

»Ruhig mal, ich will's euch genau erklären. Ein Bazill ist kein richtiges Vieh und auch keine richtige Blume – – –« ...

»Quatsch nicht, Rindvieh!« ... »Au! Du ver ...«

»Pst! Ruhe! Keine Bolzereien hier.«

Keltermann begann: »Das ist doch eigentlich sonderbar, daß wir nun plötzlich in Rußland sind, so ganz weit weg von Zuhaus.«

»Ja Ja!« fiel Olyphant lebhaft und herzlich ein; er hatte zuvor lange schweigsam eine Hummel mit einem rostigen Hufeisen schikaniert. »Daß wir einst mit fremdländischen Mädchen tanzten und nun schon zwei Jahre Krieg erleben, leben, daß Dichter und Maler töten, und heute Bilder und Verse nicht viel mehr als wie Spielzeug gelten; daß gerade ich hier bin, – – – wie sehr sonderbar!«

»Jawohl, Bootsmaat«, mengte Leibgeris bei, »und daß das Russenschiff hier auf den Schlick gelaufen ist und wir das heimlich nachts wieder flott machen sollen ...«

Berthold winkte ab, als wollte er sagen: du verstehst mich nicht[158] recht, und fuhr fort: »Dies Land, wo wir sind, ist schön und ergreifend wie ein trauriges Kindermärchen. Und wir zanken hier und hassen einander, als könnte nicht morgen, heute noch der eine oder andere von uns hops gehen –«

In Glomsdas Gehirn setzte sich auf einmal der Gedanke fest, Bootsmaat Olyphant würde nicht lebend heimkehren. Deshalb fragte er versöhnlichen Tones: »Sie kennen doch die Gegend von Friedenszeiten her?«

»Ja, ich verlebte zwei Jahre in der Nähe von Goflaz.«

»Liebet eure Feinde!« zitierte Keltermann auf das Frühergesagte bezüglich.

»Lieben? De Russen? De Grädze winsche ich den Ludern und Blutblasen an de Finger, damid se sich nich gradzen genn.«

»Ich liebe zwei Feinde«, sagte Olyphant betonend, »Mußrussen – Russinnen.« Es hörte sich an, als ob er mit eins in eine glückliche Stimmung versetzt wäre. »Heute ist der 11. Dezember 1910. (Alle sahen den Bootsmaaten verblüfft an.) Hier auf den Dünen am Strand liegt Schnee, hoher Schnee. Ich bin ich. Sie, Glomsda, sind Wanjka, und du, Leibgeris, bist Fanjka. Wir drei treue Freunde, wir drei freie, arme, junge Künstler lagern hier im Schnee beisammen, wie Geschwister. Du, Wanjka, ziehst drei Lichter hervor, entzündest sie und steckst sie in den Schnee. Und du sagst: ›So, Berthold, nun laß uns feiern, heute ist bei euch Weihnachten –‹«

»Ho!« »Da bollern sie jetzt auch.«

Alle starrten nach der Landzunge. Dort, fast an der äußersten Spitze, zerging ein weißes Wölkchen und erschien gleich darauf ein zweites, rundes Wölkchen.

Niemand wußte zu Olyphants Worten etwas zu äußern.

Der Mann mit dem gelben Bande seufzte: »Jetzt ein gebratenes Filetstück mit Knochenmark und Zwiebeln ...«

»Und mit drei fetten Cholerabazillen darauf«, stichelte der Tsingtauschorsch.

»Lichter im Schnee«, murmelte Berthold. Ein sausendes, schneidendes Heulen unterbrach ihn.

»Krietzschlag! Nu ward et Tid, dat wie ons vertörn.«

»An die Karabiner!«

»De Golera – – –« Da brach ein fürchterlicher Schreck ein. –

»Himmlischer Vater, was war das?« fragte jemand leise, entsetzt. Dann sprachen alle gleichzeitig los. Doch nicht alle; drei von den acht sprachen nicht mehr, nie mehr.

Quelle:
Joachim Ringelnatz: Das Gesamtwerk in sieben Bänden. Band 4: Erzählungen, Zürich 1994, S. 154-159.
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