[121] Da blieb es nun abwartend auf dem Grunde des Meeres liegen, das Unterseeboot, und lächelte vor Sicherheit über die feindlichen, armierten Fischdampfer, die dreißig Meter darüber wütend nach ihm ausspähten.
Die Besatzung speiste, erstaunlich viel und erstaunlich gut, dann suchte ein Teil dieser gesundheitsprahlenden Menschen in Bänken, Spinden, in der Wand oder in der Luft ihre Schlafstätten auf. Die übrigen Seeleute, darunter der Kommandant, rückten beinahe familiär am einzigen Tische zusammen, und während ihre geringschätzigen Blicke vergeblich die alles überwuchernde, wunderbar wirre Maschinerie loszulassen trachteten, dachte gewiß jedermann leidend an den Tabak, der nicht geraucht werden durfte.
Darüber entstand der Wunsch, die Zeit irgendwie froh gemeinsam zu vertreiben. Schach? Nein. Skat? Der dritte Mann sägte bereits im Schlafe Tekholz oder so etwas. Heizer Karper schaffte das Grammophon herbei. Matrose Schreyer schleppte das Grammophon sofort wieder weg im stummen Beifall aller. Nur noch eine Platte war gebrauchsfähig, die kreiste täglich zehn- bis zwanzigmal. Man hatte an Bord keinen Respekt mehr vor dem[121] Kammersänger Heinz Lebrun. Man pfiff oder trommelte mit Holzpantoffeln und Tischmessern zu seinem ewigen Liede: Wenn dir ein Mädchen recht gefällt, und sie hat einen andern, dann ist's am besten, in die Welt zu wandern. –
»Soll ich einmal mit euch die russischen Schlachtschiffe durchsprechen?« fragte der Kommandant. Doch dieser Vorschlag erfror und weiteren Vorschlägen erging es nicht besser, ob der Indolenz und einer frivolen Sucht der Mariner, jedwede Sache ins Lächerliche zu zerren. »Ich werde an meine Memeler Berta schreiben«, wandte sich Lüng an den leitenden Ingenieur, »wollen mir Herr Aspirant das nicht mal 'n bisken aufsetzen, von wegen das Göhr, und daß ich mit Felix Pillak losen will, wer der Vater ist?« Der Aspirant grinste. Hammerbruck gähnte. Karper schwankte in Gedanken faul, ob er das fleckige, in Segeltuch gebundene Heft hervorkramen sollte, worein er sich »Tetsches Hochtid«, »Die Negerbraut« und andere eindrucksvolle poetische Stücke gesammelt hatte.
Grössel, der neue Torpedermaat, den man noch nicht anders als einsilbig kannte, hatte sich auf der Steuerbordbank hintenüber gelehnt und die Augen geschlossen, schlief aber offenbar nicht, denn er kaute seiner Gewohnheit nach einen Stengel Vanille zwischen den Zähnen durch. Die andern am Tische machten sich aus Langerweile über ihn lustig. »Piter Grössel zieht seine Sargdeckelvisage.« »Er hat wieder zu tief in die Kömbuttel gepeilt«, spaßte der Olle. Auch unter Seeoffizieren ist es Brauch, sich dann und wann durch unkomplizierte Witzchen populär zu machen.
»Nee, ik glöve, he het's mit de Angst kregen«, krächzte Felix Pillak, »he is bang.« Und Hammerdruck spottete: »He drümt von Ruhm un Ehr und vom isernen Krüz.«
Schreyer fügte in anstrengendem Hochdeutsch und mit besonders schlauem Ausdruck hinzu: »Torpedermaat ist melangscholisch. He denkt an Seemansgrab oder hat Sehnsucht nach sin Fru.«
Solche Bemerkungen lohnte man regelmäßig durch ein tölpliges Gelächter, welches Grösseln feindseliger vorkam, als es war, welches immerhin aber nicht einer gewissen provozierenden Grausamkeit entbehrte.
Der Torpedermaat öffnete die Augen, und die Tischgesellen waren reichlich gespannt auf seine Entgegnung. Denn Grössel hatte ganz speziale Ansichten, so gewählte Ausdrücke und so, und[122] wenn er redete, gab es wenigstens stets Neues zum Belachen. Nun ließ er seine Blicke zugespitzt durch die Runde marschieren und hub dann mit überraschender Ruhe an: »Ihr habt recht. Ich dachte an meine Frau und sann melancholisch über Krieg und Angst und Ruhm und Schrecken nach, und ich habe vordem heimlich Rum getrunken, was ich oft tue, wenn mich die Furcht befällt, ich könnte jemals in unserer Seeinsamkeit so feinfühlig, klugdenkend und wahrheitsliebend werden, als ihr seid. – Laßt euch genauer erklären, was mich soeben beschäftigte; es ist die Geschichte, wie ich mit dem Kreuzer ...«
»Kennen wir!«
»Wissen wir längst! Wie ihr auf die Mine ranntet und du später bewußtlos durch ein V.-boot von einem Scheibenfloß aufgepickt wurdest.«
»Dat hest du all fofftein mal vertellt.«
»Nur das äußere Allgemeine. Doch dahinter steckt mehr, was ich euch gern mitteilen möchte, weil – – hm, wozu ein weil?«
»Na, dann lög mal too!« Die Seeleute am Tisch vereinbarten durch geheime Püffe und Augenzwinkern, die angekündigte, angeblich wahre Historie möglichst zur allgemeinen Belustigung auszubeuten.
»Als die Detonation erfolgte« – Grössel nahm die Vanille aus dem Munde und sah, Wort für Wort mit Überlegung berichtend, fortan über die Köpfe hinweg ins Leere – »befand ich mich mit einem Deckoffizier und dem Matrosen Leske im Zwischendeck an der Kantine ...«
»Er soff also mal wieder!« warf der Aspirant lachend ein.
»Leske, der – er tanzt – ich haßte Lesken. Ich kannte ihn bereits vor dem Kriege. Er hat meine Frau behext.
Er tanzte leidenschaftlich, und meine Frau verehrte den Tanz geradezu inbrünstig. Ich selbst goutiere diese Kunst nicht, weil ich ein ungeschickter Tänzer bin. Aber meiner Frau zu Gefallen führte ich ihr auf einem Vereinsball Herrn Leske zu, der gleich mir den Beruf eines Buchhändlers ausübte und mit dem ich als Kollege früher, allerdings mehr geschäftlich, zu tun gehabt hatte.
Ich schaute zu, als er und meine Frau tanzten. – Es war wie Meeresdünung, wie Möwenflug.
Hatte ich bisher geglaubt, der Tanz sei eitel Übermut und stimmte zur Lustigkeit, so beobachtete ich nun überrascht, daß meine Frau und ihr Partner in einem jener modernisierten[123] exotischen Tänze aneinander geschmiegt, in Haltung und Bewegung gleichsam einander ergänzend, fragend und antwortend, daß sie weder einmal lächelten, noch auch nur eine Silbe mitsammen redeten; daß vielmehr während dieses langwährenden Kreisens, vor dem sich alle anderen Paare wie bewundernd zurückgezogen hatten, ihre Augen mählich einen wunderlichen Glanz von Schwermut annahmen. Das war es wohl, was mich auf die närrische Idee brachte, sie mit zwei vom Strudel Ergriffenen, die treu umschlungen hinaus in die offene See gerissen werden, und mit einem gestorbenen Geschwisterpaar zu vergleichen, das ein Engel auf Fittichen zum Himmel trägt ...«
»He snackt as 'n Fiefgroschenroman«, unterbrach Felix Pillack, und einige von den anderen stießen ein Gelächter auf, welches der Kommandant jedoch durch einen gutmütigen Wink abschnitt.
»Ich sah also den beiden Tanzenden zu, anfangs, sie froh wähnend, mit Freude, später eigenartig ergriffen, aber, bei Gott, durchaus ohne Eifersucht. Die war mir bis dahin fremd geblieben. Ich hatte mit Elsen in einem unbefangenen, ich möchte sagen, durchsichtigen und uferlosen Glücke gelebt; mehr innige Freunde als Gatten. An jenem Festabend ging das entzwei. Felix möchte vielleicht nicht mit Unrecht wieder behaupten, es vernehme sich wie ein Groschenroman, wenn ich ausführen wollte, wie meine Frau seitdem stiller, verschlossener und nach und nach kränklich wurde, wie ihre verweinten Augen mich erschreckten und ich mir über die Ursache ihres uneingestandenen Kummers, die möglicherweise anfangs noch ein unbewußtes Sehnen war, Sorgen machte; wie ich umsonst alles aufbot, Elsen zu beglücken, sie zu heilen, und wie häßlich, drückend sich die Wochen hindehnten, bis ich herausbrachte, daß Leske, der Tänzer, es meiner Frau angetan hatte, er, der keine zehn Worte mit ihr wechselte. Sie bekannte es nie. Aber während wir einst einen Schloßpark querten, brach sie in Schluchzen aus, da sie, auf einen Busch Hortensien deutend, unvermittelt mir zurief: ›So marmorn vornehm bist du! Aber ich – –‹. Und ein andermal flüsterte sie im Schlafe deutlich vernehmbar den Namen Leske.«
Lacht nicht! Die von euch selbst verheiratet sind, mögen sich vergegenwärtigen, welchen Reichtum an Jugendhoffnungen und Idealen, an wonnewilder Männerfreiheit und bunten, lebenstrunkenen Freundschaften wir hingaben, da wir heirateten, und wie eisig uns eines Tages die Erkenntnis anwehen[124] muß, daß wir dieses Unersetzliche für einen Trug opferten.
Als mich solchermaßen jähe, frostige Klarheit überfiel und ich mir augenblicklich die Beobachtung rekonstruierte, Else habe mich seit langem lieblos behandelt, da mischte sich ein harter Groll in meine Liebe zu ihr. Es war, als blickte ich verwünschend und weinend vom abendlichen Ufer einem entschwindenden Segel nach, mit dem ein Seeräuber mein Liebstes entführte.
Ich fing an, diese Frau und unser Töchterlein mit Vorwürfen und Argwohn zu quälen. –
Sie ertrugen's stumm und geduldig; das reizte noch mehr.
Leske ist niemals unser Gast gewesen. Seitdem er auf jenes Fest hin mir eine einfache lobende Artigkeit betreffs der Tanzmeisterschaft meiner Frau geschrieben hatte, sah und hörte ich für Monate nichts mehr von ihm und mied ihn. Heute meine ich, daß er, von seiner Tanzbegeisterung abgesehen, weiter kein Interesse an meiner Gattin nahm. Damals, durchs Prisma der Eifersucht, sah ich anders. Als dann der Krieg mich von Weib und Kind trennte und zufällig zum Vorgesetzten meines vermeintlichen Rivalen machte, da ließ ich einen rohen Haß auf diesen Mann los, indem ich, die mir zu Gebote stehende Macht ausnutzend, ihn schikanierte, drangsalierte, wo immer sich Gelegenheit bot. Oft drohte es meinen Verstand zu zerstören, daß auch dieser Matrose meine Verfolgungen ohne Widerspruch hinnahm, ja, sie gar nicht zu erfassen schien. Derweilen, und bis heute, führte ich mit meiner Frau eine nicht zu umgehende, erquält gefällige, schleppende Korrespondenz. Und doch liebe ich diese Frau. Wie ich sie liebe! – – Ei, wohin gerate ich? – Nun lacht! – Lacht doch! –
Leske konnte so lachen. Immerzu lachen, und singen und tanzen. Ach, wie haßte ich diesen kritik- und gehaltlosen Frohsinn an ihm und den meisten anderen Leuten.
Leske war nie verdrossen. Er wartete, wenn wir einliefen, stets als Erster zur Urlaubsmusterung angetreten, ein schneidig angezogener, sehniger, hoher Bursche, dem ein unbezwingbares Verlangen nach den billigen Landvergnügen der Matrosen aus den Augen blitzte. Dabei doch jederzeit ein eifriger Soldat, ein flinker Seemann. – Hm.
In einer stillen Stunde, am Tage, da wir die englischen Häfen beschossen hatten, – ja, ein winziges Insekt, eine Fliege war es, die meinen Gedankengang zur Reue lenkte, – sah ich meine Ungerechtigkeit ein, bekannte ich vor meinem Gewissen, daß die[125] ausfüllende Freude an den anspruchslosesten Amüsements mich nur deshalb ärgerte, weil ich den Weg zu ihr nicht fand, weil ich Lesken samt seinen Gleichgesinnten darum beneidete. Ich hatte mich in der Zeit vorangeträumt und angenommen, Leske sei in einem Gefecht gefallen. Da dünkte mir auf einmal, sein leichter Frohmut habe etwas kindlich Rührendes, fast Heiliges gehabt.
So tappen wir in den engen Straßen der Stadt an manchem schönen Haus neunundneunzigmal achtlos vorüber, bis wir beim hundertsten Male vom rechten Abstand aus unvermutet gebannt seine Reize erschauen.
Also von da an behandelte ich den Matrosen mit Herzlichkeit. Er nahm solches Wohlwollen mit demselben höflichen Gleichmut auf wie bisher meine Feindseligkeit. – Kurze Zeit nachdem zwang Nebel unser Schiff, abends dicht vorm Hafen noch zu ankern. Ich trat im Zwischendeck an die Kantine heran, um Zwirn zu kaufen, im Wahrsten, um Lesken, der dort im blauen Urlaubsstaat pfeifend auf und ab lief, ein Freundliches zu sagen. Bevor ich jedoch noch hierzu kam, stürzte ein Deckoffizier heran, forderte aufgeräumter Laune einen »Polargestimmten« und rief dem Matrosen zu: »Na, Glückwunsch, Leske! Ihre Paradebüchs hat's Wetter umgestimmt. Die Luft klart sich, wir lichten Anker.«
Leske antwortete nur mit einem glückseligen Wiegen des Oberkörpers, das ein unbeschreibliches, wehes Gefühl in meiner Brust bewirkte. –
Tanz. –
Ich habe das nicht vergessen trotz der folgenden gewaltigen Ereignisse. Denn unmittelbar danach geschah die Explosion. Ein gräßlicher Schlag, ein minutenlanges schauriges Prasseln, Splittern, Krachen und Rauschen.
Sämtliche Lampen waren auf eins verloschen. Der Boden entglitt meinen Füßen, ich bekam in der Finsternis einen Stützen zu fassen, hatte den blitzartigen Gedanken, es sei merkwürdig, daß ein großer Kreuzer auf See genau so umkippe wie ein Spielzeugschiff auf dem Kindertisch. Darauf wurde ich von eisiger Flut eingehüllt, erinnerte mich konzentriert einer Deckschiene, die zum Aufgang des Zwischenraums leiten mußte, ertastete diese Schiene, enterte mich in höchster Anstrengung und Angst, ohne zu atmen, daran entlang – und auf einmal stieg ich, erreichte die Luft. Die göttliche Luft.
Es war auch hohe Zeit, denn schon begann es in den Schläfen zu[126] hämmern. Nun schwamm ich, gerade zu, immer geradezu, vor mir und zu beiden Seiten Nebel und Wasser in einer erbarmungslosen Färbung vermengt. Darin rudernde Arme, rote, keuchende, schreiende Gesichter. Bis ich des Flosses mit der Pängscheibe ansichtig wurde, welches wir für Schießübungen an Bord geführt hatten. An dem eisernen Bügel zog ich mich hinauf. Am anderen Ende hing schon jemand festgekrallt; es mußte der Decksläufer sein, denn er war mit dem Seitengewehr umgürtet. Das bemerkte ich sofort, obwohl ich Mühe hatte, mich selbst auf dem Gebälk zu balancieren, das durch meine Last sich bedenklich unter die Wasserfläche drückte. Meine Sinnenkraft schien verzehnfacht, ich vermochte gleichzeitig nach verschiedenen Richtungen hin die geringsten Einzelheiten wahrzunehmen.
Wir, das heißt: das Floß und im eng vom Nebel begrenzten Umkreise mehrere Schwimmer, die auf uns zustrebten, wurden von der Strömung langsam davongetragen; zu meinem Schrecken ließen wir ein Geräusch von Ruderschlägen und Kommandostimmen hinter uns zurück.
Der Läufer und ich: wir sprachen uns nicht an, unser Atem war noch zu aufgebracht. Wir hingen an dem Bügel und verfolgten kalten Auges das Schicksal der Menschen im Wasser, die sich auf uns zuarbeiteten, würdelose, krasse Selbstsucht in den Mienen und mit käferhafter Brutalität, wenn sie zusammengerieten. Nun griff der vorderste von ihnen nach dem Floß, und dieses sank mit uns rasch unter. Aber wir tauchten wieder empor, der Läufer und ich noch am Bügel. Der Dritte hatte losgelassen, schwamm neben uns her und versuchte von neuem, die Pängscheibe zu erreichen. Ich wollte abwehren. Das Floß trüge uns drei nicht. Ich blieb vor Kälte stumm und regungslos. –
Könnte ich das angstvolle Gesicht vergessen und die verzweifelte, violette Hand, die nach dem Bügel haschte.
Sie faßte ihn. Aber der Läufer riß im Nu sein Seitengewehr heraus und tat einen entsetzlichen Hieb.
Danach war der dritte Mann nicht mehr da. Seine gekrümmte Hand jedoch, mit blutigem Gelenkstumpf, hing noch mehrere Augenblicke lang am Bügel, bis sie als ein kraftloser Gegenstand herabfiel.
Mittlerweile hatte sich die Zahl der um uns herum im Wasser ringenden Seeleute vermindert; die Strömung oder Kopflosigkeit hatten sie zerstreut, viele mochten erschöpft in die Tiefe gegangen[127] sein, andere verbarg die dicke Luft. Aber während wir mit dem sich sanft um seine Achse drehenden Floß stetig weiterschlichen, zeigten sich neue Bilder des Unglücks und verloren sich wieder im grauen Dunst.
Da trieb ein Hund; er hatte an Bord dem Oberfeuerwerker gehört und uns oft zur Kurzweil gedient. Dieses Tier und ein Leutnant schwammen einander entgegen, ganz nahe von uns, so daß mir deutlich der Ausdruck in beider Augen auffiel: der Leutnant in einer fast tierischen Gier etwas zu packen, was ihn über Wasser hielte, der Hund mit einer herzergreifenden, flehenden Hilflosigkeit. Welche Szenen! Da ruderte der Lotse, der dicke, dreiste Kannebier. Plötzlich hob er die Arme, schrie mit durchdringender Stimme: »Jesus Maria, meine arme Frau!« und sackte ab.
Für das alles hatte ich Augen, ich, der ich fror, schrecklich fror, mit den Zähnen klapperte und nicht wußte, wo wir hinsteuerten, – für mich nur den instinktiven Vorsatz: Halte fest und rühre dich nicht! –
Der Läufer drehte mir den Rücken zu. Noch immer hatten wir kein Wort gesprochen. Es grauste mir vor dem Manne, der den Arm durchschlagen hatte. Er schwang noch die blanke Waffe in der Rechten. ›Laß uns laut schreien‹, rief ich ihn endlich an. Er wandte sich um.
Schauerlich! Offenbar hatte ihn der Wahnsinn befallen. Seine Augen waren herausgequollen, das Gesicht grünlich, und aus seinen Mundwinkeln floß dicker, ekelhafter Schaum.
Er entgegnete, nicht laut, aber in einem unerhört grauenhaften Tone: »Wenn du schreist, stech ich dir das Hirn aus, Brüderchen.« –
Ich war bereits gelähmt von der eisigen Kälte. Ich wollte einen Plan bauen für den Fall, daß mich der Wahnsinnige angriffe, aber meine eigenen Gedanken brachen auseinander.
»Dann oder viel später kam für kurze Frist ein Toter in unseren Sichtbann, ein alter, weißhaariger Heizer, der mit angezogenen Armen und Beinen, mit offenen, glasigen Augen erstarrt auf dem Rücken dahintrieb. Sein Trauring glänzte. – Vielleicht habe ich später zeitweilig das Bewußtsein verloren; ich erzählte euch bereits, daß ich viele Stunden auf dem Floß zugebracht haben muß. Jedenfalls erwachte nach einem apathischen Zustande mein Erkennungsvermögen plötzlich, da ich mich bei klarem Wetter auf weiter, von einer kräftigen Brise gewellten See befand und nicht ohne Genugtuung den Läufer vermißte. Das Floß, dessen Metallstange[128] ich noch immer krampfhaft umklammert hielt, schaukelte lebhaft im Seegang, und in seinem Kielwasser gewahrte ich etwas Neues, etwas Gräßliches; einen toten Matrosen – Lesken. Ohne Zweifel war es Leske. Er hatte einen anderen Mann umschlungen, und in dem erkannte ich jenen weißhaarigen Alten wieder. Er lag über diesem Leichnam und unter ihm, sie drehten sich beide Brust an Brust in der wogenden Strömung umeinander. Auch Leske tot und steif, aber mit geschlossenen Lidern und die Arme wie im Tanze um den anderen Ertrunkenen verschränkt. Sie drehten sich – sie tanzten. Tanzten immerzu. Ich wendete mich ab, sah ein Boot und fiel wohl dann in Ohnmacht ...«
Der Sprecher pausierte und ließ wieder seinen festen, ruhevollen Blick kreisen. Einige der Zuhörer ertrugen diesen, andere senkten den Kopf. »Mir hat«, fuhr Grössel fort, »kürzlich ein Straßenmädel die Karte gelegt, eine fremde, aufgelesene Dirne, die nichts über meine Verhältnisse wissen konnte, ich trage auch keinen Ring; die prophezeite mir unter anderem, ich würde meine Frau nicht wiedersehen. – Nun ...«
Grössel sprach nicht weiter. Die Gesellschaft schwieg ernst, und weil sich eine gewisse Verlegenheit anmeldete, stand der Torpedermaat auf, zog das Grammophon hervor und stellte es an.
Heinz Lebrun sang mit weicher, reiner Stimme:
... Wenn dir ein Mädchen recht gefällt,
Und sie hat einen andern,
Dann ist's am besten,
Aus der Welt zu wandern. –
Bis das Lied ausklang, und darüber hinaus, bewahrten die lauschenden Seeleute eine aufrichtige, andächtige Stille – – dort unten, in dem Boote, dreißig Meter unter dem Meeresspiegel.
Ausgewählte Ausgaben von
Die Woge
|
Buchempfehlung
Schnitzlers erster Roman galt seinen Zeitgenossen als skandalöse Indiskretion über das Wiener Gesellschaftsleben. Die Geschichte des Baron Georg von Wergenthin und der aus kleinbürgerlichem Milieu stammenden Anna Rosner zeichnet ein differenziertes, beziehungsreich gespiegeltes Bild der Belle Époque. Der Weg ins Freie ist einerseits Georgs zielloser Wunsch nach Freiheit von Verantwortung gegenüber Anna und andererseits die Frage des gesellschaftlichen Aufbruchs in das 20. Jahrhundert.
286 Seiten, 12.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.
424 Seiten, 19.80 Euro