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[89] »Frieren Sie?« Vor dem harten, geschäftsmäßigen Klange dieser Frage blieb eine abgemagerte, schieläugige Gestalt, die von einer rostbraunen Hemdbluse und ebensolcher Hose umschlottert[89] wurde, im übrigen nur noch mit Sandalen bekleidet war, einen Moment furchtsam stehen. Jedoch mit eins fing sie an zu kichern, sprach dann undeutlich und sehr schnell und trippelte hastig kreiswärts weiter. »Nein, ich friere nicht; sie haben mir zu gut eingeheizt. Ich danke Ihnen, Herr Sonnenkranz, Sie haben mir die Hölle hübsch heiß gemacht. Sie und Ihre respektablen Herren Kompagnons.« Herr Sonnenkranz verbeugte sich verbindlich und stellte bei der Gelegenheit vorsichtig seinen Zylinderhut zur Erde.

»Ja wirklich, ich danke Ihnen, Herr Stadt – Herr Sonnenkranz. Es brennt etwa für dreißigtausend Mark Papier, abgesehen von den vielen Balken. Das langt für drei Kessel; ich schätze, es bringt uns tausend Seemeilen vorwärts. Hallo, Jungens von Madeira! Hallo, Mister Sonnetal! An Bord! Wir dampfen durch den Spessart. Südost durchs Mittelländische in den Nil. Ich habe einen Kanal dort entdeckt.«

»Es wird nicht reichen«, meinte Sonnenkranz achselzuckend. Der Rostbraune lachte: »Dann passen Sie mal auf, ich verstehe mich aufs Feuern. Unsere Glatze mag ein wenig frieren, aber es bringt uns vorwärts. Jedes Hundselend hat Ausgänge. Wählen wir den letzten.« Bei diesen Worten stieß er Sonnenkranzens Zylinderhut mit einem Fußtritt in die Weißgluthöhle des Ofens. Ein Heizer lud ein Schaufelmaß Kohlen obendrein. »Wie ein Totengräber, der einer Mutter den Abschied nachpoltert. So, nun werden wir Lepupa besuchen. Es soll königlich werden, Herr Sonnenkranz. Sie lacht Elfenbein; wirklich, wirklich, sie hat meine Erfindung im Munde. Full steam, firemen! Sie werden doch keine Angst haben? Zum Henker mit all dem! Wir schlucken uns durch zehn Faden Atlantic zum Himmel, oder zur Hölle, Herr Sonnenkranz, oder wir erleben Dinge, von denen Sie nichts ahnen, Sie Stinktier.«

Der Rotbraune sang:


»Denn was der Seemann heimlich schaut,

Erzählt er nur einer Eintagsbraut.

Die wird als Hure sterben gehn;

Doch beide haben die Welt gesehn.«


Fire up! Der Sänger puffte den Heizer an die Rippen, fuhr aber zusammen, als dieser ihm langsam ein einäugiges Gesicht zudrehte.

»Mein Gott, sie haben ihm das andere ausgeschaufelt, merken Sie wohl, Herr Sonnenkranz?«

Herr Sonnenkranz gab keine Antwort, und der Rostbraune ließ[90] sich kläglich mutlos auf die orangefarbene, spitzenbehangene Bank nieder.

»Lepupa! Le-pupa! Lepu-pa!« wimmerte er in verschiedenen Tongestalten des Schmerzes vor sich hin.

Es war, als hätte sie vernommen, denn gleich darauf erschien sie, nackt, nur mit dem prächtigen Granatschmuck von Kaiser Wilhelm angetan, erinnerungsgetreu, traumwahr in ihrer bezwingenden Schönheit; den gewaltigen bräunlichen Körper, die vollen mattglänzenden Frauenbrüste mit mißachtender Lässigkeit wiegend. Sie blickte ihn wollustschürend, streng an, und irgendwo in dem Perlmutterweiß ihrer Augen gestand sich die allbereite Liebe, die schrankenlose Willfährigkeit ein.

Aber Lepupa entschwand wieder, bevor der Rostbraune sich aufgerichtet hatte. »Ach, Lepupa, geh nicht davon! Lepupa, bleibe! Lepupa, du Vieh! Ich kann ja nicht zu dir kommen; sie haben mir die goldenen Räder gestohlen.«

Es schien, als kehrte sie zurück. Doch nein, eine andere nahte, ganz langsam, sanft, eine alte ehrwürdige Dame mit schöner hoher Stirn. »Michel, ich bin es, deine Mutter. Du hast böses Geld verloren; was liegt daran. Du bist krank, arm, du leidest; ich weiß alles; schäme dich nicht. Du hast bewahrt, was ich dir mit gab, und damit halte aus.«

Er aber weinte lange, umklammerte ihre Hände; und nun erkannte er, daß es doch Lepupa war, die er festhielt. Anna Lewise kam, Daja kam, die bucklige Ägypterin von Fayum und Tante Gerold kamen, dazu Sonnenkranz mit seinen Kompagnons und andere Herren, sämtlich in schwarzen Anzügen, mit schwarzen Handschuhen und gewichsten Zylinderhüten, und Herr Kästner sagte: »Wir wollön seinö und ihrö Knochön verteilön.« Dabei griff er Lepupa ins Gesicht und riß ihr mit spitzen Fingernägeln die Augen heraus, daß sie nur noch an blutigen Fleischbändern hingen, tief niederhingen. »Gott, Gott! Mutter! Erbarmen!« Der Rostbraune wich zurück, Lepupa mitreißend. Die Männer folgten mit furchtbar ausgestreckten Armen, wie riesige scheußliche Krebse, Schritt für Schritt. Seine Zähne schlugen klappernd auf- und auseinander. Er fror, und seine Augen zwinkerten unter rinnendem Schweiß. Er hörte keinen Laut, fühlte nur, wie die blutigen Fleischbänder mit Lepupas Augen an seinen Körper anpendelten, wich weiter zurück, wandte den Kopf und erblickte hinter sich das glühende Feuerloch. Dann, unmenschlich[91] aufkreischend, packte er den Wasserkrug und schlug um sich. –

»Nummero 16 doppelte Seitenfessel!« befahl der Direktor einem Wärter und schloß die Beobachtungsklappe.

Quelle:
Joachim Ringelnatz: Das Gesamtwerk in sieben Bänden. Band 4: Erzählungen, Zürich 1994, S. 89-92.
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