Das halbe Märchen Ärgerlich

[255] Aber es geschah nicht, obwohl von gar keiner bestimmten Zeit die Rede war, auch kein eigentlicher Ort dabei eine Rolle spielte. Nur entzog sich der Kenntnis was – ohne in Existenz zu verharren – auch nicht annähernd von jemand erdacht werden konnte.

Damit war keine Lüge ausgesprochen, ja nicht einmal das Unmögliche eines Vermissens änderte etwas, weil die Pause, die hätte eintreten müssen, lächerlicherweise sowohl eines Anfanges als auch des Endes entbehrte. Da im übrigen ein Dazwischentreten verhindert schien, so blieb (wenigstens so lange nichts Bedeutenderes geschah) kein Resultat aus, vorausgesetzt, daß es überhaupt durchführbar wäre, Resultate wie Samenkörner von Keim zu Keim zu tragen.

Ungeachtet dieser Ermangelung gebrach es doch nicht an einem gewissen Fehlen, während sich andererseits weder ein Laut kundgab noch sonst etwas regte, es sei denn, man wolle einwenden, daß keinerlei Aufmerksamkeit in Anspruch genommen wurde. Vielleicht hätte man gerade in dem Nichtzugegenseienden das Abwesende suchen müssen; jedenfalls unterblieb das Unverhoffte eines Tages, und indem hierdurch die nicht unterbrochene Hohlheit einfach nicht im Stande war, einem von jeher bestehenden Leersein Platz zu machen, wurde Graf Quiekenbach geboren. Vormittags.

Der quietschte wie ein Schieferstift auf der Schiefertafel. Nachmittags wuchs er auf, so daß er nach zwei Jahrzehnten bereits 20 Jahre alt war; wonach er sofort jenes kindische, läppische Benehmen aufnahm, das man mit Würde übersehen muß. Sehr zu Recht lehnten dann auch alle ernst zu nehmenden Lektoren seine geschraubten Schreibereien ab, dieses dumme Zeugs, welches er, wie er sich unbescheiden ausdrückte: »Aus Blut und Wonne geschrieben« hatte.

Graf Quiekenbach wurde nie gesetzt. Stehend, auf der Treppe, schlang er elf Rouladen in sich hinein. Und es ist ein recht billiger Witz, der kein Kommentar verdient, wenn es überhaupt ein Witz und nicht nur eine ekelhafte und sogar recht dürftige Zote ist, statt »Gesäß«: »Arsch« zu sagen.[256]

Weder auf Tag noch auf Nacht gestimmt, kostete der Graf nach Laune jeweiliger Situation bald von diesem, bald von jenem und genoß zutiefst: heute die Rotweinflecke auf Seite 11 eines in Schürzenleinwand gebundenen Klostermemoires, morgen ein Milchmädchen am Sendlinger Tor, auf deren Zinkdeckel der Strahl der Morgensonne splitterte.

In seiner unvernünftigen Tollkühnheit verabscheute der Graf jegliche Arbeit. Bei strömendem Regen lustwandelte er elfmal die Friedrichstraße auf und ab, kam dabei elfmal an elf Bettlern vorüber, und indem er jedem jedesmal zurief: »Seien Sie vergnügt, mein Lieber, denn jeder Junior ist ein Senior!« rief er diesen Satz also 11 mal 11. Der Graf hatte eine Vorliebe für eine bestimmte Zahl, die er pflegte und verehrte, und der er besondere Bedeutung beimaß, nämlich die 14, die Vierzehn.

Er begab sich darum Punkt 11 Uhr von der Friedrichstraße über die Reeperbahn nach dem Stachus, wo um diese Zeit die Kinder der ärmeren Bevölkerung Danzigs ihre zarten Leidenschaften austoben lassen. Quiekenbach suchte sich unter diesen Kindern eins heraus, das sich durch bessere Kleidung und ein etwas unsympathisches, leichthin dummfreches Gesicht von den anderen unterschied, und dem schenkte er seine volle Börse. Der Kind nahm das Börse, stammelte etwas von Betrunkener Esel, streckte die Zunge meterweit heraus und lief davon. Lange noch sah der Graf ihm nach, bis die flatternde Zunge am Horizont verschwand. Dann wanderte er langsam heim, in ein abendliches Lächeln gehüllt von dem Gedanken an billige, bunte, ewigdehnbare Schlangen aus Zuckergummi.

Auf der Treppe zu seiner Wohnung holte ihn ein Herr ein, der, als Quiekenbach stehen blieb, um die Türe zur Wohnung aufzuschließen, ebenfalls stehen blieb und ebenfalls einen Schlüssel zog.

»Wollen Sie zu mir?« fragte Quiekenbach.

»Nein, ich wohne hier«, erwiderte der andere lächelnd.

»Sie?? Das ist ein Irrtum. Hier wohne ich.«

»Bitte überzeugen Sie sich.« Der Fremde zeigte lächelnd auf das Namensschild an der Tür. Der Graf sah aus Höflichkeit flüchtig hin. »Nun?« sagte er. »Bitte, was steht dort geschrieben?«

»Quiekenbach«, sagte der Fremde lächelnd.

»Quiekenbach«, sagte Quiekenbach.

»Ich bin Graf Quiekenbach«, sagte der Fremde lächelnd.[257]

»Sehr angenehm«, erwiderte der Angeredete, »aber ich bin Graf Harald Oskar Fridicenius von Quiekenbach, hier seit dreizehn Jahren wohnhaft.«

»Ich auch.«

»Pardon, ich wage nicht anzunehmen, daß Sie Scherz mit mir treiben oder angeheitert sind –«

»Erlauben Sie, ich halte es für ausgeschlossen, daß Sie unzurechnungsfähig sind oder mich zum Besten halten.«

Es entwickelte sich eine endlose Kette von Argumenten für eine unerhörte Duplizität. Beide Kontrahenten, oder vielmehr Kongruenten traten ein, waren mit der Wohnung vertraut, bewiesen einander durch Griffe, Papiere etc. eine völlige Gleichheit und stritten sich darüber auf selbe Art, daß jedes Schimpfwort des einen dem anderen sozusagen aus der Seele gesprochen war, also wieder sofort zur Versöhnung führte. Frau Gräfin Mutter wurde herbeigerufen. Sie erkannte in jedem der beiden den einzig Richtigen.

Da die Gerichte in diese mysteriöse Angelegenheit sicher kein Licht, aber wahrscheinlich Lärm und Unkosten hineingebracht hätten, so verzichtete man auf sie und einigte sich.

Es wäre schade gewesen, solch doppeltes Leben nebeneinander zu verpuffen. Vielmehr reizte das Problem: Das eine Leben abzustellen bis zum Ende des anderen und es dann zur Fortsetzung des anderen wieder loszulassen. Man würfelte. Unser Quiekenbach gewann. Er steckte den anderen Quiekenbach in eine Tonne, salzte ihn ein und schrieb auf den Deckel: »Nach meinem Tode zu öffnen.«

Durch diese Arbeit sehr ermüdet, besuchte Quiekenbach, einen geschmiedeten Plan in der Tasche, seinen Freund, den arktischen Maler Dlonuxam, dessen Heimat, wie bereits angedeutet, die arktische Zone war und dessen Spezialgebiet es war, Stilleben zu malen. Halbierte Melonen auf rosa Plüschdecke. Gurkensalat zwischen Ziegelsteinen.

»Guten Tag«, sagte Quiekenbach, »möchtest du Gesandter des Staates – –«

»Halt!« schrie der Maler, der gerade die ersten Maltakartoffeln, das Pfund zu Mk. 1.60, das halbe Pfund zu Mk. 0.90 malte, »tritt nicht in die Gruppierung.«

Quiekenbach ging vorsichtig um die Erdäpfel herum. »Ich gedenke mich als Missionar im Innern Afrikas zwecks Bekehrung eines noch unbekannten Heidenvolkes zum fuhlitanischen Glauben niederzulassen.«[258]

»Grün ist eine unhörbare Farbe«, sagte Dlonuxam weitermalend.

»Glaubst du, daß der Staat Arktikum meine Mission befürworten wird?«

»Das Knollige muß mehr zum Ausdruck kommen.«

»Dann bitte bestätige mir als Gesandter durch Unterschrift und Stempel, daß deine Regierung mich ausgesandt –« Quiekenbach legte ein Schriftstück auf den Tisch.

»Laß mich zufrieden, wahnsinniger Uhu!« rief Dlonuxam, nach der Tür weisend.

Quiekenbach trat vor die Kartoffeln hin und holte langsam mit dem Fuße aus wie ein Fußballstößer bei Beginn. »Du willst also nicht durch Unterschrift und Stempel – –??«

»Halt! Ja doch! Ja!« Dlonuxam unterschrieb und drückte viele Stempel unter den vorgeschriebenen Text der Urkunde: »Einschreiben« – »Mitglied der Neuen Secession« – »Vorsicht Glas!«

Wenden wir uns jetzt von den beiden ab und zu Quiekenbach. Nach Quiekenbachs Abreise war Quiekenbach sofort von einem neugierigen Dienstmädchen aus der Salztonne befreit worden. Sofort lehnte er sich weit aus dem Fenster seiner Wohnung und knallte 24 Stunden lang mit einer aus Mulattenblinddarm geflochtenen Peitsche, während er unausgesetzt in die Nacht hinaus laut konjugierte: »Kakaich, Kakadu, Kakaer, sie, es –«

Solches unreife rüpelhafte Betragen verdient selber nur die Peitsche. Und wenn das nichts hilft, dann noch härtere und härteste Züchtigung.

Es war ihm schon etliches versetzt; dann wurde aufs strengste zugepackt, den Burschen zu strafen. Die Hämmer sausten zuletzt im Asphalt-Arbeiter-Takt auf den Grafen.

Darüber wurde der lange hagere Herr Quiekenbach kurz und breit, wurde schließlich zu einer Scheibe mit beweglichen Sohlen. Aber dieser Wanze verblieb ein großes, grünes Glasauge; grün und doch schön, aus Glas, weil starr, aber es war doch beseelt und trotzte allem Illustren, überblendete alle bestehenden Lumina.

Wenden wir uns jetzt zweimal um uns selber herum und dann zum Grafen Quiekenbach. Der hatte ein afrikanisches Buschvolk entdeckt, dessen kannibalischen Appetit er durch Überreichung seines Beglaubigungsschreibens sozusagen ausbluffte. Danach rief er den Negern devot lächelnd zu: »Ihr Gesäßlöcher!« und schlug sein Zelt auf. Acht Tage lang bewirteten ihn die Wilden aus[259] Neugierde, sie brachten ihm Kokuskaktosbier ans Bett und eine an Rindfleisch erinnernde Mehlspeise. Als ihn die Neger am neunten Tage fressen wollten, rief er ihnen in ihrer Sprache zu. »Halt!« denn er war nicht müßig gewesen. Er hielt sie in Furcht und Schrecken. »Ich bin ein mächtiger Zauberer aus einem furchtbaren Lande. Wenn ich will, kann ich euch jederzeit durch 1111 gleichzeitige Blitze vernichten, aber wenn ihr zwei Jahre lang eure jungen Mädchen um mich versammelt und mir reichlich Kokuskaktosbier – –« Er versprach ihnen Märchen; und es ging ihm gut, denn zwei Jahre lang ließ er sich Kokuskaktos und junge Mehlspeise und viele schöne, an Rindfleisch erinnernde Mädchen ans Bett bringen. Hatte dafür nur Märchen zu erzählen. Erzählte sie, anfangs versuchsweise in der Sprache der Eingeborenen, später aus Bequemlichkeit in Magdeburger Dialekt. Improvisiertes, Erlogenes und Erstunkenes, was er halt so einkokuste oder auskaktoste, Fuselgefasel.

Dieses nichtswürdige zentralafrikanische Betrügerleben des Grafen Quiekenbach wurde jäh durch ein ebenso sonderbares als grausames Ereignis gestört, welches berufen war, endlich einmal Licht in viele erwähnte, sowie auch bisher unbekannte und zum Teil haarsträubend unsittliche Begebenheiten zu bringen. Wenden wir uns zuvor noch einmal zum Grafen Quiekenbach zurück.

Quelle:
Joachim Ringelnatz: Das Gesamtwerk in sieben Bänden. Band 4: Erzählungen, Zürich 1994, S. 255-260.
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