Der Seriöse

[343] Wo ich abends Weißwürste fresse,

Da sitzt oft drei Tische weit

Vor mir ein Herr von Noblesse,

Sehr groß, sehr ernst und sehr breit.


Sein Haar und Bart, seine Kleidung

Sind einwandfrei und gepflegt,

Wie er unter steter Vermeidung

Sich einwandfrei sicher bewegt.


Wie ihn die Kellner bedienen,

Ist er ein Fürst oder reich.

Doch bleibt das Spiel seiner Mienen

Jederzeit würdig und gleich.


Wenn diese würdig seriöse

Erscheinung vorübergeht,

Dann ist mir, als ob mein Gekröse

In Hirn und Leib sich verdreht.
[343]

Denn wenn er mit seinen Blicken

Mich streifte – das fühle ich klar –,

Ich würde zusammenknicken

Und nimmer sein, was ich war.


Doch ohne seitwärts zu schauen,

Schreitet er durchs Lokal.

Seine gerunzelten Brauen –

Wie alles an ihm – sind aus Stahl.


Und seine Schritte lenken

Sich dahin, wohin man nicht sieht.

Ich wage nicht auszudenken,

Was er dort etwa vollzieht.


Ach, ich bin klein, ich bin böse.

Mein Herz ist auch nicht ganz rein.

Ach dürfte ich solche seriöse

Persönlichkeit einmal sein!

Quelle:
Joachim Ringelnatz: Das Gesamtwerk in sieben Bänden. Band 1: Gedichte, Zürich 1994, S. 343-344.
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