|
[215] An die Seiten seines Allerliebsten Herren Jesu.
1.
Ist dieser nicht deß höchsten Sohn,
Der Sünder Heil und Gnadentrohn,
Dem man in seiner grossen quahl
Die Rieben zehlet allzumahl
Ans Kreützespfahl?
2.
Ach ia, es ist mein Jesulein,
Dem schau Ich in die Seit' hinein,
In welcher lauter Honig klebt,
Daß allem Trübsahl wiederstrebt,
Daß ümm' uns schwebt.
3.
Gegrüsset seist du, schönste quell',
In dir erscheinet trefflich hell
Der Liebe Macht, die rohte Fluht,
Deß Lebens Brunn, ein edles Bluht,
Mein höchstes Guht.
4.
Ich nahe Mich in furcht zu dir,
Du Gottes Lam, verzeih' es Mir:
Ich komm' allein zu sehen an
Die wunde, welch' uns heilen kan,
Da Bluht auß rann.
5.
O wehrter Riss, O süsser Fluss!
Nim hin von Mir den Glaubenskuss,
Eröffne Mir dadurch den Mund
Und lass Mich werden bald gesund
Biß auff den Grund.
6.
Wie heilsahm ist doch deine krafft!
Wie trefflich ist dein' Eigenschafft!
Du riechest edler als der Wein,
Kein Gifft kan vor dir Sicher sein:
Du machst uns Rein.
7.
Du bist der rechte Lebenstrank,
Du heilest Mich, wen Ich bin krank:
Viel süsser Labsahl gibst du Mir,
Wen Mich, Herr, dürstet für und für
Allein nach Dir.
8.
Eröffne dich, du seiten loch,
Daß Ich dein Hertz begreiffe doch.
Ach Jesu, kan eß nicht gescheen,
Daß Ich mag in die Höhle gehn,
Dein Hertz zu sehn?
[216]
9.
HERR, meine Lippen schliessen sich,
Dein Hertz zu küssen säuberlich:
Ich dringe mit Gewalt hinein,
Ich wil in deineß Hertzen Schrein
Verschlossen sein.
10.
O süsser Schmack, O Himmels brod!
Auß Liebe wünsch' Ich Mir den Tod:
Wer dich geschmekt, du heil der welt,
Der hat sich selbst schon hingestelt
Inß Himmelß zelt.
11.
In dieser Höhle sol kein Schmertz
Betrüben mein zerschlagneß Hertz:
Hie fürcht' Ich nicht der Höllen gluht,
Deß höchsten Grim, der Sünden fluht,
Deß Kreützes Ruht.
12.
O Jesu, schliess' itz meine Seel'
In diese deiner Seiten höl'
Und lass Mich, frei von allem streitt',
Erheben dich nach dieser zeit
In Ewigkeit.
Buchempfehlung
»Zwar der Weise wählt nicht sein Geschicke; Doch er wendet Elend selbst zum Glücke. Fällt der Himmel, er kann Weise decken, Aber nicht schrecken.« Aus »Die Tugend« von Albrecht von Haller
130 Seiten, 7.80 Euro
Buchempfehlung
Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.
430 Seiten, 19.80 Euro