Ueber das Evangelium am 25. Sonntage nach dem Feste der h. Dreifaltigkeit

[251] Matth. 24, 15.


Wie wird des Kummers doch so viel,

O Gott, auf dieser Erden!

Es nahet sich das letzte Ziel,

Bald wil es Abend werden;

Man höret ja zu dieser Zeit

So manche Not und Herzeleid,

Daß sich ein jeder Nacht und Tag

Hiegegen wol bereiten mag.

Es wird dein Herz, o Menschenkind,

Genannt ein Tempel Gottes,

Ist aber leider ganz voll Sünd',

Als Lügen, Unzucht, Spottes,

Verläumdung, List, Abgötterei,

Begierd' und Wollust mancherlei,

Samt tausend ander Missethat,

An welchen Gott ein Greuel hat.

Geh' eiligst in dein böses Herz,

Und wenn du das besehen,

So bitte Gott, daß Reu' und Schmerz

In solchem mög' entstehen,

Ja, stelle sich gar an das Licht,

Damit sein Zorn entbrenne nicht

Und strafe dich, dazu das Land

Mit Krankheit, Theurung, Krieg und Brand.

Für allen Dingen sei geschmückt

Mit einem wahren Glauben,

Damit, wenn Trübsal dich berückt,

Man dir nicht könne rauben

Die Gottesfurcht, der Tugend Grund,

Welch' uns die Seel' erhält gesund;

Sei diesem nach ein guter Baum,

Der guten Früchten machet Raum.[252]

Lies Gottes Wort und merke drauf:

Dies sind die güldne Schriften

Des Himmels, welcher Kraft und Lauf

Uns so viel Gutes stiften,

Die sol und muß ein jedermann,

Im Fall' er gleich nicht lesen kan,

Sich lassen hoch befohlen sein,

Sie geben Freud' und Trost allein.

Doch ist auch nicht genug gethan,

Das Wort des Herren lesen;

Du must noch ferner auf die Bahn

Und forschen gar sein Wesen,

Mit scharfen Augen must du sehn

Und lernen alles recht verstehn,

Dieweil das Wort zur jeden Frist

Ein Licht auf unsern Wegen ist.

Und must du denn in dieser Welt

Dein Hab' und Gut verlassen,

So lies doch, was der Schrift gefällt,

Daß man sich selber hassen

Auch alles gern verlieren sol

Umb Christi willen. O wie wol

Wird er dafür zum Gnadenlohn

Dir geben dort die Himmelskron'!

Wird denn das Elend gar zu groß,

So must du plötzlich fliehen

Nach solchen Bergen, die sich bloß

Zu deiner Rettung ziehen;

Dein' Hülfe komt vom Herren her,

Drum wär' ein Unfall noch so schwer,

So weiß dennoch dein Schöpfer Rat,

Der alles Heil in Händen hat.

Steig' auf den Berg, woselbst der Herr

Hat das Gesetz gegeben,

Da wird ein Moses-Prediger

Das Herz dir machen beben;

Von dannen flieh' in schneller Eil'

Auf Zions Berg, da dir das Heil[253]

Verkündigt wird, das dir zu gut

Erworben ist durch Christi Blut.

Sei nicht bemühet, mit Gefahr

Viel Schätz' hieselbst zu holen;

Des Herren Wort laß immerdar

Dir treulich sein befohlen;

Denn, lieber Mensch, was ist es mehr,

Wenn du dich plagest noch so sehr,

Allhier zu werden groß und reich?

Du bist doch bald der Aschen gleich.

In Trübsal bete Tag und Nacht,

Daß Gott sie wolle lindern,

Als der nach seiner großen Macht

Kan allen Unfall hindern;

Ja, weil sein treues Herz ihm bricht,

So wil er uns verderben nicht,

Denn seine Lieb' ist stets bereit,

Zu trösten uns in Traurigkeit.

So kom', o liebster Jesu, kom'

Und hilf uns überwinden,

Dein heiligs Wort das mach' uns from,

Auf daß wir dich nur finden;

Kom, liebster Jesu, zum Gericht,

Ach hilf, daß wir, o schönstes Licht,

Dir singen in der Freudenbahn:

Mein Heiland, das hast du gethan.

Quelle:
Johann Rist: Dichtungen, Leipzig 1885, S. 251-254.
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