Hirtenlied

[188] Spielet auf und laßt uns singen,

Wie die kalte Zeit einbricht,

Die zwar alles kan bezwingen,

Nur verliebte Seelen nicht;

Luft und Wasser, See und Erden

Stehen gleich dem harten Stahl,

Auch das Feld muß Eisen werden

Und die Wiesen allzumal,

Nur bei treuer Lieb' allein

Wil das Feur erhalten sein.

Kan der Winter alles zähmen,

Kan er töten Laub und Gras,

Kan er schon die Frücht uns nehmen,

Kan er zwingen alles Naß:

Ei, so muß er doch mit Schanden

Von den Herzen ziehen ab,

Die mit festen Liebesbanden

Sind verknüpfet bis ins Grab:

Es wil treue Lieb' allein

Bis ans Ende standhaft sein.[188]

Ist ein Schäfer, der nicht liebet?

Solcher ist von schlechter Art,

Wo er nicht die Sinnen übet

Und im Herzen die bewahrt,

Die er ihm allein erkoren

Vor sein auserwähltes Gut:

Ei, so hat er gar verloren

Witz und Kühnheit, Herz und Mut;

Doch wil treue Lieb' allein

Steif und fest erhalten sein.

Wil man hohe Geister kennen,

Klug von Worten, groß von That,

Lieber, laß dir einen nennen,

Der mit Ernst geliebet hat.

Das sind ja geringe Seelen,

Blöde Schäfer, sehr verzagt,

Die kein eignes Herz erwählen

Und das Lieben nie gewagt.

Doch wil treue Lieb' allein

Bis ins Grab erhalten sein.

Daphnis hat sich recht besonnen,

Daß er seine Galathe

In den Feldern lieb gewonnen,

Eh' der Sonnentrank, der Schnee,

Aus den Wiesen uns getrieben;

Ach, was ist es wolgethan,

In dem Sommer so zu lieben,

Daß man es genießen kan,

Wenn der Winter läßt allein

Zwei verliebte Herzen sein.

Spielet auf, ihr Hirtenknaben,

Eh' der Tag wird hingerafft;

Daphnis wil nun bald vergraben

Galatheen Jungfrauschaft;

Lasset die Schalmey erschallen,

Eh' die Sonn' ins Wasser geht,[189]

Galatheen zu gefallen,

Welch' in Daphnis' Armen steht.

Galathee sol allein

Daphnis' Allerliebste sein.

Quelle:
Johann Rist: Dichtungen, Leipzig 1885, S. 188-190.
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